Ironisch, spielerisch und dekonstruktiv: die SCHIRN zeigt ab 10. März eine Ausstellung zum zeitgenössischen Selbstporträt.

In der Themenausstellung [¶£ zeigt die SCHIRN vom 10. März bis 29. Mai 2016 Selbstporträts zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler. Zu sehen sind 40 internationale Positionen aus Malerei, Fotografie, Video, Skulptur und Performance, unter anderem von John Bock, Eberhard Havekost, Alicja Kwade, Mark Leckey, Nam June Paik, Pamela Rosenkranz, Rosemarie Trockel und Erwin Wurm.

Die Selbstinszenierung ist zum Massenphänomen einer Beeindruckungskultur geworden.

Max Hollein

Was erwartet man von einem Bild, das ein Selbstporträt sein soll? Die Bestandteile sind eigentlich über Jahrhunderte erprobt: Die Künstlerinnen oder Künstler erforschen ihre Gesichter im Spiegel und setzen diese Erfahrung ins Bild. Die Moderne brachte unzählige Selbstdarsteller hervor und versprach sich von ihnen nicht selten das nackte Selbstbekenntnis. Und heute? Künstlerinnen und Künstler halten dem Betrachter nicht länger ihr Gesicht vor Augen. Sie lassen die Selbstenthüllung hinter sich, entziehen sich dem Blick und gehen auf Umwege – und auch auf Distanz zum eigenen Ich. 

Ironisch, spielerisch und dekonstruktiv 

Oft wissen wir nur, dass es sich um Selbstdarstellungen handelt, weil uns das der Titel verrät: Imi Knoebel präsentiert eine Ansammlung von Utensilien als "Selbstporträt mit Pappkarton", Gabriel Kuri eine Kombination aus Isolierfolie und einer Muschel. Abraham Cruzvillegas macht persönliche Dokumente durch Übermalung unlesbar und nennt das „blindes Selbstporträt“, während Ryan Gander statt gemalter Bildnisse die angeblich dafür verwendeten Farbpaletten präsentiert. Günther Förg schreitet kopflos eine Treppe hinab, Wolfgang Tillmans zeigt nur sein Knie und Pawel Althamer seine Kleider. Michael Sailstorfer schreibt seinen Namen in großen Lettern, Sarah Lucas tritt dem Betrachter beinahe ins Gesicht, und Florian Meisenberg lässt ihn per Smartphone-Livestream an seinem Leben teilhaben. Ironisch, spielerisch und dekonstruktiv sind diese Selbstporträts von heute.

Wolfgang Tillmans, Lacanau (self), 1986, Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne © the artist

Die Zeiten, in denen sich der Künstler ohne Ironie ins Zentrum des Bildes setzen konnte, sind offensichtlich vorbei. Nicht zuletzt haben sich auch die Rahmenbedingungen einer solchen Bildproduktion erdrutschartig verändert. Erstmals in seiner langen Tradition ist das Selbstporträt heute als Kulturtechnik im Alltag verbreitet und jedem zugänglich. Es ist damit als exklusives Produkt künstlerischer Subjektivität Geschichte. Selbstbildnis ohne Selbst, Porträt ohne Gesicht, Krise der Repräsentation – das Selbstporträt hat sich von der Illusion der Realität verabschiedet. Ähnlichkeit wird gemieden, das Äußere wird verborgen. Die Ausstellung [¶£ folgt den Bilderstürmern des Ich auf ihrer Suche nach einer zeitgemäßen Form der Selbstdarstellung. 

Der Tod des Autors 

Das traditionelle Selbstbildnis ist inzwischen Geschichte, seine früher üblichen Merkmale und Attribute fehlen in neueren Arbeiten meist gänzlich. Dass der Mensch nicht Herr ist in seinem Haus, ist schon länger bekannt. Zweifel an der Darstellbarkeit des Subjekts äußerte spätestens die Philosophie des französischen Poststrukturalismus. So erteilten Michel Foucault und Roland Barthes mit ihren Theorien vom Verschwinden des Menschen beziehungsweise vom Tod des Autors den modernen Konzeptionen von Subjektivität, künstlerischer Urheberschaft und Originalität eine radikale Absage. Jacques Derrida beschrieb das Selbstporträt als Ruine, der immer schon eine Blindheit eingeschrieben war.

Mit einem konventionellen Porträtbegriff lassen sich diese Bedingungen kaum mehr vereinbaren. Zudem hatte der politische Aufbruch der 1960er-Jahre mit seinem Angriff auf verkrustete Strukturen und Hierarchien keinen Platz mehr für Malerfürsten in Öl. Im Rückblick erweist sich diese Zeit als Keimzelle der Praktiken von heute: Sie führte zu einer Entmythologisierung des Künstlers als Schöpfer. Diese Jahre brachten darüber hinaus einen besonders experimentellen Zugang zum Selbst. Einerseits führten die Angriffe auf den Geniekult der Moderne zu Strategien wie Kunst als Kompilation, serielle Produktion oder Reproduktion, die den Künstler aus der Schusslinie rückten. Andererseits wurden mit Body Art und Performance neue Möglichkeiten ausgelotet. 

Paradoxe Situationen 

Für die Selbstdarstellung bedeutete das eine Erweiterung ihrer Möglichkeiten. Konzeptuelle Ansätze lösten expressive ab und interessierten sich vor allem für die Bedingungen des Genres. Das führte zur leicht paradoxen Situation der Wiederbelebung des Selbstporträts durch dessen Widerlegung. In der Ausstellung wird dies an Arbeiten wie Brustwerk (1973) von Friederike Pezold, dem Filzanzug (1973) von Joseph Beuys oder Centers (1971) von Vito Acconci deutlich, die in diesem Spannungsfeld entstanden.

Friederike Pezold, Brustwerk, 1973, Bank Austria Kunstsammlung, Wien

Massiv gestützt von unterschiedlichen philosophischen und soziologischen Theorien und Entwicklungen in den 1960er- und 1970er-Jahren, überwiegt der Zweifel der Künstlerinnen und Künstler an der Abbildbarkeit des Selbst bis heute.

Dr. Martina Weinhart, Kuratorin

Ein weiterer zentraler Baustein des Porträts erscheint heute verdächtig: das Gesicht. Bislang diente es als privilegiertes Ausdrucksmedium des Menschen. Wahrheit und Trug, Sichtbarmachen und Verbergen, zwischen diesen Momenten changierte seine Oberfläche. Heute bietet sich auch hier ein widersprüchliches Bild: Die Massenmedien brachten eine visuelle Überschwemmung mit Gesichtern, sodass Thomas Macho bereits eine „faciale Gesellschaft“ beobachtet. Gleichzeitig wurde das Gesicht dadurch entwertet. An seiner Glaubwürdigkeit rütteln neben Photoshop oder Morphing die kosmetische Chirurgie, die durch die Gentechnik erschlossenen Möglichkeiten oder auch die digitale Gesichtserkennung. Das Gesicht ist zum Politikum geworden. 

Dezentralisierung, Blindheit und Versperrung 

Stand der Mensch in der Moderne im Zentrum der Selbstdarstellung, begegnet er dem Betrachter heute sogar in fotografischen Selbstbildnissen als Randerscheinung. Letztlich kommt der Fotografie eine Schlüsselrolle zu. In der Malerei erfolgte die Befreiung von der Ähnlichkeit genau in dem Moment, in dem die Fotografie auftauchte. Nun befreit sich die Fotografie selbst von der Ähnlichkeit. Dezentralisierung, Blindheit und Versperrung sind das Ergebnis. Auffallend häufig erscheinen fotografische Künstlerselbstbildnisse fragmentiert oder ohne Kopf.

Jack Pierson, Self Portrait #25, 2005, Courtesy Teutloff Museum e.V., Photo: Kurt Steinhausen, Köln

So entzieht Eberhard Havekost sein Gesicht, wenn er in der Serie Hotel (2003) nur Teile seines Körpers, wie etwa einen Fuß, abbildet. Wolfgang Tillmans wählt eine Perspektive, die kaum noch zu entschlüsseln ist. Von der jungen Koreanerin Jun Ahn sehen wir nur die Beine oder den Hals. Mark Leckey, Träger des Turner Prize, bedient sich wiederum der neuesten technischen Möglichkeiten, indem er sein Porträtfoto als 3D-Druck in eine fragmentierte Skulptur übersetzt. Seine hyperrealistischen Leckey Legs (2014) sind jedoch gleichzeitig kulissenhaft, paradoxerweise fast körperlos, der Kopf fehlt ganz. Es scheint konsequent, wenn sich der Amerikaner Jack Pierson in seiner Selbstporträtserie aus dem Jahr 2003 von anderen vertreten lässt und selbst nicht mehr im Bild erscheint. 

Das Gesicht hat Konkurrenz bekommen 

Dem technischen Fortschritt entsprechend stellt auch die Wissenschaft auf der Suche nach tieferen Erkenntnissen über den Menschen immer neue bildgebende Verfahren bereit: Fingerabdruck, Röntgenaufnahme, Endoskopie, Iriserkennung, Hirnstrommessung. Fasziniert von den neuen Möglichkeiten tritt die bildende Kunst in einen Dialog mit diesen wissenschaftlich-technischen Methoden der Bildgenerierung. Das Gesicht hat Konkurrenz bekommen. Die in der Schirn gezeigten Werke vollziehen diese Auseinandersetzung von den 1960er-Jahren bis in die unmittelbare Gegenwart nach.

Das Brain Portrait (1963) von Robert Morris ist ein Elektroenzephalogramm (EEG) seines Gehirns. Jürgen Klauke legte sich für seine Prosecuritas-Serie in ein Durchleuchtungsgerät am Flughafen. In der entstandenen Röntgenaufnahme, die er als Toter Fotograf (1988/1993) bezeichnet, ist er nur an seinen Schuhen zu erkennen. Das Selbstporträt (2015) von Alicja Kwade besteht aus 22 Phiolen mit den chemischen Elementen, aus denen sich der menschliche Organismus zusammensetzt. Pamela Rosenkranz verarbeitet schließlich in Attraction (Red and Blue) (2014) neuere wissenschaftliche Erkenntnisse, die verdeutlichen, dass eine komplexe Gemeinschaft von Mikroben, Parasiten und Viren im Körper neuro-aktiv wirkt und damit beeinflusst, wie der Mensch denkt und fühlt. Damit macht sie Prozesse sichtbar, die einfache Vorstellungen vom Ich als Illusion entlarven. 

Das Subjekt changiert 

Die Schirn-Ausstellung [¶£ führt die ikonoklastischen Verfahren, die das Genre des Selbstporträts heute durchläuft, umfassend zusammen und präsentiert Wege der künstlerischen Subversion: Witz, Ironie, Dezentralisierung, Fragmentierung, Blindheit und Versperrung. Die Subjektivität des Künstlers ist dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, ein Leitmotiv der zeitgenössischen Kunst geblieben, sie ist jedoch nicht mehr ausschließlich mit dem Abbild des Künstlers verbunden. Das Subjekt changiert, deshalb ist es schwer in einem Bild zu fassen. Das Ich wird experimentell evakuiert. Es kommt nur noch zu flüchtigen Begegnungen.

Sarah Lucas, I know what I like in your wardrobe, 1996, Fondazione Sandretto Re Rebaudengo, Copyright: Fondazione Sandretto Re Rebaudengo