Der einsam lebende Henry Darger aus Chicago erschafft das 15.000 Seiten umfassende Werk „Realms of the Unreal“ – und versetzt die Welt in Erstaunen. Von Michael Bonesteel

Eines Tages am Anfang des 20. Jahrhunderts war Henry Darger gerade auf dem Heimweg, als er seinem besten und einzigen Freund Whilliam Schloeder begegnete. Darger berichtete, er habe gerade einen Brief aus Abbieannia erhalten, aber noch keine Zeit gefunden, ihn zu lesen. „Abbieannia!“, rief Schloeder begeistert, „du meine Güte. Das muss etwas Wichtiges sein!“

Das war es in der Tat, denn als Darger den Brief öffnete, las er, dass ein gewisser Colonel Jack Ambrose Evans von Dargers Gemini Society zum Schutz von Kindern erfahren hatte. Dringend ersuchte ihn Evans um Hilfe bei der Rettung der Vivian Girls, sieben junger Kriegerprinzessinnen aus Abbieannia, die einen Kinderkreuzzug zur Abschaffung der Kindersklaverei in den Ländern der imaginären, von Darger erschaffenen Welt „Realms of the Unreal“ führten.

So machte ein einfacher Hausmeister eines Krankenhauses und gläubiger Katholik sich selbst zu einer fiktiven Heldenfigur im „Reich des Irrealen“ und begründete seine eigene monumentale, in einer anderen Welt spielende Saga, in der die Mächte des Guten und des Bösen um die unschuldigen Seelen von Kindern kämpften.

Reise nach Abbieannia

Darger und Schloeder hat es wirklich gegeben, und sie mögen die Mission ihrer aus zwei Mitgliedern bestehenden Gemini Society auch durchaus geteilt haben – aber Darger erhöhte ihre Zahl in seinem unveröffentlichten, mehr als 15.000 Seiten umfassenden epischen Roman „In the Realms of the Unreal“ um mehrere Dutzend und begab sich mit ihnen auf eine lange Reise, die auf magische Weise in eines der Länder im Reich des Irrealen führte – in das außerirdische Königreich Abbieannia.

Ihre Reise führt sie zunächst nach New York, und von dort nehmen sie einen Dampfer zu den Karibischen Inseln. Sie geraten in einen Hurrikan, der das Schiff so stark beschädigt, dass sie es in den Rettungsbooten verlassen müssen. Als die Vorräte aufgebraucht sind, essen sie in ihrer Verzweiflung zwei der Seemänner, die bei dem Schiffbruch gestorben sind. Schließlich werden Darger und seine Begleiter gerettet und setzen ihre Reise bis zum Pazifik fort.

Irgendwo hinter Hawaii gelingt der Mannschaft die wundersame Überfahrt zu den fiktiven Angelinischen Meeren im Reich des Irrealen und von dort nach Abbieannia. Nirgends wird erklärt, wie dies genau bewerkstelligt wird, und zieht man eine schon weiter zurückliegende Textpassage heran, nach der unsere Erde ein Mond dieses „imaginären Planeten“ und dieser „tausend Mal so groß wie unsere Welt“ ist, scheint die Überfahrt Dargers Phantasie entsprungen zu sein.

Dargers Bilder, die Menschen auf der ganzen Welt in Erstaunen versetzt und verblüfft haben, sind im Wesentlichen zusammenhängende Illustrationen der Geschichte, die im Großen und Ganzen bereits vollendet war, als Darger seine letzten großformatigen Werke schuf.

In der Zeit, in der Darger an den Realms schrieb – von etwa 1912 bis wohl in die 1930er-Jahre –, ging er nach Freihandzeichnungen dazu über, Fotos aus Illustrierten und Zeitungen zu bearbeiten, fertigte Collagen aus Fotoreproduktionen, pauste Bilder durch, um schließlich all diese Techniken in Form eines durchgepausten collagierten Aquarells zu kombinieren und zu verfeinern.

Glandelinians foltern Mädchen

Vermutlich gegen Ende dieses Jahrzehnts began Darger, in größeren Formaten zu arbeiten. Er ließ kleinere Papierstücke sich überlappen oder klebte sie zusammen, um eine größere Arbeitsoberfläche zu erhalten. Bei den kleinen Bestandteilen handelt es sich häufig um die unbemalten Rückseiten von Blättern aus den frühen 1930er-Jahren und der Zeit danach.

Aus diesen wiederverwerteten Einzelarbeiten entstanden ein langes Panoramabild und auch Diptychen, Triptychen oder vierteilige Arbeiten. Bei den Letzteren scheinen die Szenen meist willkürlich zusammengefügt und eher nach ihrer Größe als nach ihrem Thema ausgewählt worden zu sein.

Häufig sind die Mädchen ohne Kleidung dargestellt, um darauf hinzuweisen, dass sie von den Glandelinians gefangen wurden oder ihnen gerade entkommen sind: Die Glandelinians haben ihren Spaß daran, die Kindersklaven auszuziehen, um ihnen das Leben noch unerträglicher zu machen. Die überwiegend einfarbige grau-beige oder blaue Kleidung zeigt an, dass manche Mädchen als Spione unterwegs sind und sich dafür als Glandelinians verkleidet haben.

Rätselhafte sexuelle Motivik

Das größte Mysterium von Dargers Bildern ist die Tatsache, dass er viele seiner nackten weiblichen Figuren mit einem Penis versah. Es ist viel über die Gründe spekuliert worden, warum er die weiblichen Kinder mit männlichen Genitalien versah – wobei die Theorien von psychoanalytischen Interpretationen über einen eingebildeten weiblichen Phallus bis zur Geschlechtsverwirrung reichen, die das Ergebnis des emotionalen oder sexuellen Missbrauchs gewesen sein könnte, dem Darger als Kind im Heim ausgesetzt war; sogar die Möglichkeit, dass er vielleicht nie einen nackten weiblichen Körper sah, wurde in Betracht gezogen.

Es wäre eine Untertreibung zu sagen, dass Darger überaus produktiv war: Die zweihundert bis dreihundert Arbeiten, für die er hauptsächlich bekannt ist, bilden nur die Spitze eines (in erster Linie literarischen) Eisbergs. Neben seinem Opus magnum „In the Realms of the Unreal“ und der 8.500 Seiten starken Fortsetzung „Further Adventures in Chicago: Crazy House“ verfasste er die 5.000 Seiten lange Autobiografie „The History of My Life“, legte sechs Bände mit Wettertabellen an, führte Tagebuch und füllte verschiedenste Hefte mit Notizen, Statistiken, Skizzen, zusätzlichem Material und frühen Entwürfen für die „Realms“.
Ausbruch aus der wirklichen Welt

Als all diese Arbeiten kurz vor seinem Tod entdeckt wurden, war es für die wenigen Menschen, die ihn kannten, ein regelrechter Schock. Dass dieser zurückgezogen lebende und unsoziale alte Mann – Produkt einer tragischen Jugend und eines einsamen Erwachsenendaseins – die meiste Zeit seines Lebens damit verbracht hatte, sich seine eigene virtuelle Welt zu schaffen, ist tieftraurig und zugleich auf unglaubliche Weise unfassbar und letztlich voller Wunder.

Denn nur ein wunderbares und allumfassendes Reich des Irrealen konnte Darger aus dem Reich einer wirklichen Welt fortlocken, die voller Fehlschläge war.

Der Kunsthistoriker Michael Bonesteel lehrt am Art Institute of Chicago.

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