Maler und gleichzeitig Sänger. Tänzer und gleichzeitig Regisseur. Vielseitigkeit ist in Island kein Sonderfall, sondern eine Selbstverständlichkeit. Auch unter den Künstlern, die an Gabríela Friðriksdóttirs „Crepusculum“-Film mitgearbeitet haben, finden sich Multitalente.

Sigurður Guðmundsson war zur falschen Zeit am falschen Ort. Wenige Jahre nachdem der isländische Maler beschloss, seinen Lebensunterhalt mit der Malerei zu verdienen, verhungerte er. Es fand sich einfach niemand, der seine Werke kaufen wollte. Das war 1874. Damals lebten die meisten Isländer in Torfhütten. Es gab die Schafzucht und den Fischfang, und sonst nicht viel. Die isländische Kultur war allein von der Literatur bestimmt. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts, mit der Industrialisierung des Fischfangs, entwickelte sich eine moderne Gesellschaft auf der Insel – und mit ihr eine Kunst- und Kulturszene.

Ungeheuer interdisziplinär

Heute zeichnet sich diese Kulturszene vor allem durch eine Besonderheit aus: Sie arbeitet ungeheuer interdisziplinär. Gabríela Friðriksdóttir ist das beste Beispiel dafür. Sie zeichnet, malt, fotografiert, macht Videos, fertigt Skulpturen und fügt dann oft alles in einer Installation zusammen. Und sie ist kein Einzelfall. Die wenigsten isländischen Kreativen scheren sich um Genregrenzen: Bildende Künstler sind gleichzeitig Rockmusiker und Schauspieler. Regisseure gleichzeitig Moderatoren und Autoren.

Viele Isländer sind Multitalente, und sie trauen sich sehr viel zu“, sagt Matthias Wagner K, Kurator der Friðriksdóttir-Ausstellung in der SCHIRN, „das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass in Island 330000 Menschen alle Funktionen einer Gesellschaft besetzen müssen, für die wir hier in Deutschland 86 Millionen Menschen haben.“ Außerdem entwickelte sich die isländische Kulturszene durch die späte Industrialisierung des Landes viel rasanter als anderswo. „Man hatte keinen nationalen kunsthistorischen Background. Einerseits ist so ein Background natürlich positiv, andererseits kann er aber auch sehr lähmend sein“, sagt Wagner K.

Kreativität als Hauptmotor

Also probierte sich die isländische Kunstszene von Anfang an in allen Richtungen aus. Wichtiges Vorbild ist für viele junge isländische Kreative Dieter Roth (1930-1998), ein Schweizer Künstler, Grafiker, Filmemacher, Dichter und Musiker, der seit den 1960er Jahren immer wieder auch in Island lebte. Kreativität war sein Hauptmotor. In welchem Medium sie ausgelebt wird, war für ihn – und ist bis heute für die meisten isländischen Künstler – Nebensache.

Auch wenn man sich die Mitwirkenden an Gabríela Friðriksdóttirs „Crepusculum“-Film anschaut, fällt auf, dass viele Multitalente darunter sind. Zum Beispiel Jónas Sen, der die Musik des Videofilms komponierte: In den 1980er Jahren studierte er Musik, Music Performance Studies und Arts Management in Reykjavík, Paris und London. Er ist Komponist, Konzertpianist, spielt Keyboard in Björks Band und entwickelte mit dem isländischen Star Arrangements für ihr neues Album „Biophilia“. Außerdem arbeitet er als Musik- und Kulturkritiker – und als Fernsehmoderator.

Internationale Erfolge

Gabríela Friðriksdóttirs Ex-Mann Daníel Ágúst Haraldsson hat den „Crepusculum“-Film geschnitten. Aber er ist nicht nur Cutter von Kunstfilmen, sondern auch Musiker und Komponist. Bevor er als Sänger der Technosoulband GusGus ab Mitte der 1990er Jahre international Erfolge feierte, erlebte er 1989 beim Eurovision Song Contest (der damals noch Grand Prix hieß) eine herbe Niederlage. Seine Ballade „Það sem enginn sér“ („Was niemand sieht“), mit der er Island vertrat, landete mit null Punkten auf dem letzten Platz. Sein erstes Soloalbum „Swallowed a Star“ mit experimenteller Musik veröffentlichte er 2006. Im selben Jahr gründete er auch die Country-Blues-Rock-Band Esja. Gabríela Friðriksdóttir hat über Daníel Ágúst übrigens mal gesagt, er zeichne viel besser als sie selbst. Ein Talent, mit dem er bisher allerdings noch nicht an die Öffentlichkeit gegangen ist.

Der isländische Tanz-Shootingstar

Eine andere international bekannte Künstlerin, die am „Crespusculum“-Film mitwirkte, ist Erna Ómarsdóttir. Sie gilt als der isländische Tanz-Shootingstar und das Talent der jungen internationalen Choreografenszene. 1998 schloss sie ihre Ausbildung an der renommierten Schule „PARTS“ in Brüssel ab. Danach tanzte sie in einigen weltweit führenden Kompanien für modernes Tanztheater – bei Jan Fabre, Ann Teresa de Keersmaker und Sidi Larbi Cherkoui. Für ihre Arbeit bekam sie zahlreiche Preise, unter anderem wurde sie viermal hintereinander von der Zeitschrift „Tanz“ als herausragende Performerin ausgezeichnet. Für das „Crepusculum“-Video entwickelte sie gemeinsam mit Gabríela Friðriksdóttir und Valdimar Jóhannsson (der beim „Crepusculum“-Film auch den Sound mitkomponierte) die Performance. Mit Jóhannsson hat Erna Ómarsdóttir auch die Tanzkompanie Shalala aufgebaut. Und eine Band gegründet, in der sie singt: Lazyblood macht eine irre Mischung aus Electro, Metal und experimenteller Oper.

Für Erna Ómarsdóttir, Gabríela Friðriksdóttir, Daníel Ágúst Haraldsson, Valdimar Jóhannsson und Jónas Sen scheint Vielseitigkeit ein Bedürfnis und eine Selbstverständlichkeit zu sein. Genau wie viele andere isländische Künstler interessieren sie sich nicht für die Trennung der Sparten bildende Kunst, Film und Musik – und genau das macht die isländische Kulturszene so spannend und kreativ.