Die Weite der Wüste und die Enge der Schweizer Alpen: Ein Gedankenspiel über den Zusammenhang von Herkunft, Lebensraum und Kunst bei Giacometti und Nauman.

Alberto Giacometti und Bruce Nauman sind künstlerische Einzelgänger. Ihre Arbeiten lassen sich keinem Stil, keiner künstlerischen Strömung eindeutig zuordnen. Ihre Gemeinsamkeiten, so zeigt die Ausstellung in der SCHIRN eindrücklich, liegen eher im Feld allgemeinerer künstlerischer Interessen – an „Figur und Raum“ und der Suche nach einem „Maß der Dinge“, an Beziehungen zwischen Menschen. Zugleich ist der direkte Vergleich ihrer Werke aber ein wenig wie der Vergleich von Äpfel und Birnen, sie könnten unterschiedlicher nicht sein.

Ganz ähnlich verhält es sich, wenn man einmal die Lebens- und Arbeitssituationen der beiden konträren Künstlerpersönlichkeiten vergleicht. Bruce Nauman ist in Fort Wayne, Indiana aufgewachsen, im mittleren Westen der USA. Die Kleinstadt liegt in Mitten endloser Maisfelder. Seit den 1980er-Jahren lebt und arbeitet er in Galisteo, New Mexiko, einer kleinen Siedlung mit weniger als 300 Einwohnern, mitten in der Wüste. Das Klima dort ist denkbar extrem, Regen fällt nur selten.

Cowboy fernab der Kunstzentren

Nauman wohnt dort auf einer Ranch, gemeinsam mit seiner Frau Susan Rothenberg, die Malerin ist. Beide habe ihr eigenes Atelier, das direkt an den Wohnraum anschließt. Naumans Atelier liegt ebenerdig, der Übergang zur flachen Landschaft draußen ist fließend. Das Atelier ist zudem relativ großzügig bemessen, allerdings gefüllt mit den unterschiedlichsten Materialien, die darauf warten, irgendwann zu Kunst zu werden. Wenn Nauman einmal nicht im Atelier arbeitet, kümmert er sich um seine Pferde. Als „Cowboy-Artist“ lebt er so fernab der großen Kunstzentren.

Bruce Nauman in Galisteo, New Mexico, Image via barteverly.com

Alberto Giacometti dagegen kommt aus dem Bergell in der Schweiz, einem engen Alpental, in das im Winter kaum ein Sonnenstrahl fällt. Seinem kleinen Heimatdorf Stampa, wo man heute sogar Giacometti-Touren buchen kann, blieb er zeitlebens verbunden. Ab 1922 war – mit einer Unterbrechung während der Kriegsjahre - jedoch Paris sein Lebensmittelpunkt. Dort, im absoluten Zentrum der Kunstwelt der Zeit, hatte er ein winziges Atelier in der rue Hippolyte-Maindron 46, unweit des legendären Künstlerviertels Montparnasse.

Menschenmassen in der Großstadt

Den zahlreichen Schwarzweiß-Aufnahmen nach zu urteilen, war sein Atelier höher als breit und randvoll mit fertigen und unfertigen Gips-Skulpturen. Sogar die Wände waren mit Skizzen bemalt. Auch bei Giacometti befand sich der Wohnraum in direkter Nachbarschaft von seinem Arbeitsplatz. Seine Freizeit verbrachte er gerne unter Menschen, er war Stammkunde in den legendären Pariser Cafés, wo er sich mit anderen KünstlerInnen und Intellektuellen auszutauschen pflegte. Auf Stadtspaziergängen beobachtete er die vorbeieilenden Menschenmassen der Großstadt.

Das Studio von Bruce Nauman, Image via db-artmag.de

Alberto Giacometti in Stampa, Image via bka.ch

Beide Künstler bewohn(t)en somit durchaus extreme (Stadt-) Landschaften, deren überwältigende Ausmaße und deren Einsamkeit einerseits – bzw. Überfülle andererseits, den Menschen als Individuum auf sich selbst zurückzuwerfen vermögen. Vielleicht ist dies mit ein Grund dafür, dass beide Künstler, auf sehr unterschiedliche Art und Weise, den Mensch als Maß für ihre Arbeiten einsetz(t)en. – Doch bestimmt der Lebensraum von KünstlerInnen wirklich so direkt ihre Arbeit?

Werk und Lebensraum

Aus kunsthistorischer Sicht fiele eine Antwort auf diese Fragen zu unterschiedlichen Zeiten sicher sehr verschieden aus. Heute würde man wohl sagen, dass KünstlerInnen keinesfalls auf ihr künstlerisches, soziales oder wie auch immer definiertes Umfeld reduziert werden können, dass die Biografie allein nicht der Schlüssel zum Werk sein kann. Obwohl also Eigenschaften wie Enge und Vertikalität oder Weite und Horizontalität, Gedrängtheit und Leere, hell und dunkel, kalt und warm, komprimierte und offene Räume, Längungen, zerklüftete Oberflächen usw. den beiden Künstlern, ihren Werken und ihren gebürtigen wie gewählten Lebensräumen zugeordnet werden könnten, tragen solche Zuordnungen nicht als Erklärungsmodelle und verbleiben deshalb besser im Bereich der losen Assoziation. Interessant sind sie lediglich als Gedankenspiel und als Spuren, die sich verdichten, aber auch schnell wieder verlieren können.

Alberto Giacometti arbeitet am Gips für „Homme qui marche“, 1958, Photograph by Ernst Scheidegger © 2016 Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv, Zürich