Wenn Alberto Giacometti und Bruce Nauman den menschlichen Kopf ohne den dazugehörigen Körper zeigen, macht es uns Schaudern. Warum?

Im letzten Raum der Ausstellung „Giacometti Nauman“ wird die Arbeit „Ten Heads Circle/In and Out“ von Bruce Nauman vier Büsten von Alberto Giacometti gegenübergestellt. Alle diese Arbeiten zeigen menschliche Köpfe. Obwohl wir es gewohnt sind, den Kopf auf Fotos, Gemälden und auch in Skulpturen isoliert zu sehen, schauert es den Betrachter bei diesen Arbeiten: der Kopf erscheint als Fragment.

Das Wort „Fragment“ stammt aus dem Lateinischen. Das Verb „fragere“ bedeutet „brechen“ und „frāgmentum“ lässt sich als „Bruchstück“ oder „Überbleibsel“ übersetzten. Welche Bruchstücke sind es, die Giacometti und Nauman mit diesen Arbeiten zeigen?

Aufgerissene Augen starren uns an

Giacometti nutzt mit der Büste eine klassische Art des Porträts, der Kopf wird mit einem Ausschnitt des Oberkörpers dargestellt. Dabei ist der Kopf kein Bruchstück, sondern steht stellvertretend für die ganze Person: pars pro toto. Giacomettis Büsten haben jedoch eine andere Wirkung. Der Oberkörper scheint verstümmelt. Betrachtet man die Silhouette der gesamten Skulptur aus einigem Abstand, so ist nahezu ein Kreuz zu sehen. Die Gesichter selbst sind eingefallen, hängende Wangen mit tiefen Falten und kahle Köpfe. Große Münder, Nasen und aufgerissene Augen starren uns an, während die Pupillen als Leerstellen besonders hervorstechen.

GIACOMETTI-NAUMAN, Ausstellungsansicht © Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2016, Foto: Norbert Miguletz

Die Büsten von Giacometti sind aus Bronze und stammen aus den Jahren 1964 und -65. Sie gehören zu Giacomettis letzten Arbeiten. Der Künstler war zu dieser Zeit schon schwer krank, bereits 1963 war er an Magenkrebs erkrankt, dem er  im Januar 1966 unterlag. Es wird vermutet, dass Giacometti für die Büsten die Physiognomie seines Bruders Diego als Inspiration diente, der ihm in früheren Zeiten oft Modell gesessen hatte. Die Spuren des Herstellungsprozesses, das Erarbeiten einer Form aus einem Klumpen Modelliermasse mit den Fingern, sieht man dem fertigen Bronzeguss deutlich an.

Was macht uns Angst?

Gegenüber den Skulpturen, die klassisch auf Sockeln präsentiert sind, hängen zehn farbige Köpfe von der Decke herab. Paarweise mit sichtbaren dünnen Drähten verankert, die sich umeinander drehen. Geht ein Lufthauch durch den Raum, bewegen sie sich leicht. Je ein Kopf zeigt mit dem Haupt zur Decke, der andere hängt verkehrt herum – wenn das bei einem Kopf ohne Körper überhaupt geht. Sie hängen gerade so tief, dass wir ihnen auf Augenhöhe begegnen. Unser Kopf, vom Körper getragen, besitzt dieselbe Höhe. Durch die Art der Präsentation der Köpfe von Nauman denkt man unweigerlich an abgeschlagene Köpfe und es stellt sich die Frage: was genau macht uns da Angst?

GIACOMETTI-NAUMAN, Ausstellungsansicht © Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2016, Foto: Norbert Miguletz

Nehmen wir unseren Mut zusammen und betrachten die Köpfe aus der Nähe. Die grellen Farben, die geradezu fröhlich wirken, passen nicht zu den Gesichtern. Sie haben die Augen geschlossen, während in einigen Nasenlöchern und Mündern merkwürdige Gegenstände stecken, haben andere den Mund wie erstarrt geöffnet oder hängende Mundwinkel. Keine Haare sind zu sehen, das Haupt ist mit einer Art Haube bedeckt. Keinerlei Zeichen von Leben ist zu finden, Naumans Köpfe erinnern an Totenmasken.

Quer über den Kopf

Naumans Arbeit trägt den Titel „Ten Heads Circle/In and Out“ und stammt aus dem Jahre 1990. Bereits in den späten 1980er-Jahren hatte der Künstler damit begonnen, Abgüsse von Körpern zu fertigen. Zuerst von toten Tieren, später machte er aber auch Wachsabgüsse menschlicher Köpfe am lebenden Modell. Dies erklärt die Gegenstände in Nasen oder Mund. Es handelt sich um Röhrchen, die eine Luftzufuhr während des Abformens gewährleisteten. Drei Personen dienten ihm als Modell: seine Assistenten Andrew Peters und Juliet Myers sowie der Schauspieler Rinde Eckert.

GIACOMETTI-NAUMAN, Ausstellungsansicht © Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2016, Foto: Norbert Miguletz

Auch die unheilvolle Naht quer über den Köpfen erklärt sich aus dem Herstellungsprozess. Nauman nutzte das Material Alginat um je einen Abdruck von Gesicht und Hinterkopf zu machen. Um die Abdrücke als Gussform zu nutzen, mussten die beiden Abdrücke verbunden werden. Als Material für die endgültige Skulptur wählte Nauman Wachs. Er goss mehrere Schichten flüssiges Wachs in die Form und ließ sie aushärten. Die Spuren der Herstellung vertuscht er anschließend nicht. Ähnlich wie bei Giacometti können wir auch hier die Arbeit des Künstlers, den Prozess der Entstehung sehen.

Portrait, Büste, Totenmaske oder auch die Fotografie eines Gesichtes – sie alle haben eine gemeinsame Funktion, sie sollen als Erinnerung an ein Individuum dienen, mitunter auch als Erinnerung an Verstorbene. Doch die Porträts von Giacometti und Nauman erinnern den Betrachter noch an etwas anderes: an die eigene Vergänglichkeit und das Ringen darum, dem Vergessenwerden und vielleicht auch dem Tod zu entkommen. Die Köpfe von Giacometti und Nauman sind Fragmente, sie sind Überbleibsel der Existenz und Bruchstücke der Erinnerung.

GIACOMETTI-NAUMAN, Ausstellungsansicht © Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2016, Foto: Norbert Miguletz