Seit 1958 lebt und arbeitet Erró in Paris, dem Geburtsort der europäischen Avantgarde. Wir haben mit dem Künstler einige faszinierende Stunden in seinem Atelier verbracht.

Es ist ein frischer Pariser Novembertag. In der Rue Fondary, ganz in der Nähe des Eiffelturms, betreten wir einen unscheinbaren Hinterhof. An einer schweren Eisentür hängt ein Schild mit vier handgeschriebenen Großbuchstaben: ERRÓ. Islands wohl bekanntester lebender Künstler begrüßt uns herzlich und führt uns in sein geräumiges, von gedecktem Tageslicht durchflutetes Atelier. Überall finden sich Spuren seines gigantischen Œuvres: Farbsatte Leinwände lehnen gegen Tische, Skizzen, Fotografien und Ausstellungsplakate bedecken die Wände, Kataloge und Bücher stehen in randvoll gefüllten Regalen.

Mao war nie in Venedig

An einem Tisch in der Mitte des Raums lehnt ein Gemälde, das auf den ersten Blick so gar nicht wie eines von Erró aussieht. Es ist im Stil des sozialistischen Realismus gemalt, wie man ihn aus der Zeit der Kulturrevolution kennt. Junge in Arbeitsuniform gekleidete Chinesinnen sitzen im Kreis, lächeln und unterhalten sich. Nur der Hintergrund – augenscheinlich das Schloss Neuschwanstein – verrät, dass es in Europa entstanden ist. Das Bild stammt aus der im Kontext der Venedig Biennale entstandenen Reihe „Mao’s last Visit to Venice“, die chinesische Arbeiter, Bauern, Soldaten und Mao selbst in der berühmten pittoresken Umgebung der Touristenstadt zeigt. „Mao war nie in Venedig,“ lacht Erró, „er verreiste überhaupt nie. Er war nur ein einziges Mal in Moskau.“ Einige Bilder aus dieser Reihe stehen verpackt an einer Wand. Vor ein paar Jahren fragte eine Institution aus Peking sie für eine Ausstellung an. Die Originale waren überall auf der Welt verteilt, bei Sammlern und in Museen. „Ich dachte mir: Warum nicht einfach kopieren? Das passt zu China, die kopieren doch auch alles. Also brachte ich die Motive in einem speziellen Druckverfahren auf Leinwand auf. Das Ergebnis war täuschend echt.“ Verschifft wurden die Bilder nie, die chinesischen Behörden sagten die Ausstellung kurzfristig ab.

Hakenkreuze und pornographische Szenen

An einer Wand lehnen einige für den Versand verpackte Gemälde. Der Hamburger Sammler Harald Falckenberg hat sie gerade für seine Sammlung gekauft – eine der bedeutendsten in Deutschland. Sie zeigen SS-Soldaten und Hakenkreuze gepaart mit pornographischen Szenen, die durch den expliziten Comicstil geradezu unschuldig wirken. Entstanden sind sie Anfang der 1970er Jahre in Spanien, als dort das faschistische Franco-Regime noch an der Macht war.

Den Faschismus hat Erró auch in einem seiner schockierendsten Gemälde behandelt: „Die Geburt Hitlers“ aus dem Jahr 1966. Erró schlägt ein Buch auf und zeigt uns ein Foto des zwei mal drei Meter großen Originals, das die Neue Nationalgalerie schon Anfang der 1970er Jahre erworben hat. In Berlin schlummerte es lange im Archiv, seit ein paar Tagen ist es in der Ausstellung „Der geteilte Himmel“ wieder zu sehen.

Der 79-Jährige liebt, was er tut, und hat viel zu erzählen. Er ist agil wie ein 30-Jähriger, und so arbeitet er auch. Jeden Morgen steht er um 7 Uhr auf, um den ganzen Tag zu collagieren und zu malen. Kaum haben wir den ersten Raum betreten, das Diktiergerät und die Kamera gezückt, ist er ganz in seinem Element.

Es ist ein detailliertes Scape: Gesichter, darunter die von Franco und Mussolini, Köpfe von Katzen und Affen, Hitlers und Mussolinis Hunde, ein Schwein mit Hakenkreuz-Armbinde, Fratzen mit aufgerissenen Mündern, schreiende Babys und überall Augen – blutunterlaufen, mit Ekzemen und Geschwüren überwuchert. Wie alle seine Scapes entstand auch dieses Bild aus einer aufwändigen Collage aus gesammelten Bildmaterialien. Ein Buch mit Augenkrankheiten, das Erró auf einem Flohmarkt entdeckte, inspirierte ihn dazu. 

Das Licht zeichnet Motive auf die Wand

Wir begutachten gemeinsam den Schrank, in dem er sein riesiges Archiv aufbewahrt. Bis vor kurzem waren die akribisch beschrifteten Schubladen prall gefüllt, doch Erró hat viele der Bücher, Bilder, Magazine und Postkarten entsorgt, um Platz zu schaffen. Er zieht eine Schublade auf und holt das Buch mit den Augenkrankheiten heraus. Die Vorlagen zu den wichtigsten Gemälden seines Œuvres sind noch da.

Seine Arbeitsweise – Collagen erstellen und anschließend auf Leinwand übertragen – erschloss sich Erró schon zu Beginn seiner Laufbahn und blieb ihr treu. Ein Freund brachte ihm eines Tages ein Episkop. Seitdem arbeitet er nur noch mit diesem Projektor, der auch undurchsichtige Medien an die Wand projiziert.

Erró wirft sein Episkop für uns an, und das Licht zeichnet Motive auf die weiße Leinwand, die er noch am gleichen Nachmittag bemalen wird. Seine Methode ist Kern seiner Kunst. In seinen persönlichen Notizen, die er demnächst publiziert, steht: „Die Collage ist der aufregendste Teil meiner Arbeit, eine Art Écriture Automatique. Sie ist gleichzeitig Original und Modell.“

Wir renovierten Wohnungen

Nach Stationen in Norwegen und Italien kam Erró 1958 nach Paris, wo er in die Avantgarde eintauchte. Über seinen besten Freund, den Künstler, Theoretiker und Kurator Jean-Jacques Lebel lernte Erró die Surrealisten kennen. „Die Begegnung war entscheidend für meine Entwicklung. Ich traf Marcel Duchamp, André Breton, Salvador Dalí, Roberto Matta und viele andere. Der Surrealismus war die verrückteste und befreiendste Bewegung der Avantgarde.“ Wie seine Künstlerkollegen schlug er sich anfangs mit Gelegenheitsjobs durch. „Wir renovierten Wohnungen und taten alles Mögliche, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen.“ Seine ersten Bilder verkaufte er an einen Galeristen in Florenz, doch er war fest entschlossen, in Paris zu bleiben. Für die Stadt an der Seine war eine Liebe entflammt, die bis heute hält.

In den 1960ern verbrachte Erró immer wieder Zeit in New York. „Dort standen alle Türen offen, das war ich von Paris nicht gewöhnt, wo man sich eher zurückzog.“ Er freundete sich mit Ikonen der Pop Art an, darunter James Rosenquist, Roy Lichtenstein und Andy Warhol – eine weitere wichtige Etappe für seine künstlerische Entwicklung. 

In Paris fand Erró schließlich gemeinsam mit Künstlern wie Eduardo Arroyo oder Öyvind Fahlström zu einem eigenen Stil, der Narrativen Figuration. In der Kunstwelt erfuhr sie lange Zeit nur wenig Anerkennung. Erst im Jahr 2008 widmete das Centre Pompidou der Gruppe eine große Retrospektive, und so kam Erró endlich auch offiziell in Paris an.

Errós Werk ist imposant. Erró, der Mensch, ist bodenständig, leidenschaftlich und großzügig. Neben der Tür steht eine frisch gelieferte Kiste mit edlem Rotwein – nach über 60 Jahren in Paris ist Erró ein echter Franzose. Er gibt uns noch eine Flasche für den Abend mit. Wir genießen sie und denken noch lange an die Begegnung.