Der Tango ist seit 100 Jahren in Finnland populär, Tendenz steigend. Woher stammt die Vorliebe der Finnen für sentimentale Musik in Moll? Eine Untersuchung des Phänomens auf dem Schirn Magazin.

Glaubt man dem finnischen Sänger, Komponisten und Entertainer M.A. Numminen, haben die Finnen den Tango erfunden. Glaubt man ihm nicht, muss man wohl einer alternativen Geschichtsschreibung folgen, die die Entstehung des Tango (Argentino) in den Ballungsgebieten von Buenos Aires und Montevideo in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verortet. Hier entstand die Musik und ihr Tanz aus unterschiedlichen migrantischen Einflüssen, unter anderem der kreolischen Candombe oder auch der böhmischen Polka. Schnell entwickelte sich der Tango zu einem Massenphänomen, dass zum Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge des allgemeinen Interesses an exotischen Kulturen auch in europäischen Metropolen und insbesondere in Paris Verbreitung fand, der Maßstab des kulturellen Lebens jener Zeit in Europa. 1913 stellte ein dänisches Ehepaar den Tango in Helsinki vor. Der Tanz fand schnell Verbreitung in den interessierten Gesellschaftsschichten der Hauptstadt. Im Jahre 1915 wird die erste finnische Tangokomposition "Tanko Laulu" vom finnischen Sänger und Schauspieler Iivari Kainulainen in Schellack gepresst. Eine Parodie.

Die Existenz einer Parodie weist auf eine breitere Rezeption des Tangos im Finnland dieser Zeit hin. Andere finnische Komponisten veröffentlichten ihre ersten Tangokompositionen unter argentinisch klingenden Pseudonymen und erst später, mit einsetzendem Erfolg, unter ihren richtigen Namen. Im Begleittext einer Sammlung finnischer Tangos des Musikverlags Trikont aus den 1990er-Jahren erklärte Toivo Kärki, selbst Komponist, den Erfolg des Tangos in Finnland mit einer Vorliebe der Finnen für sentimentale Musik in Moll. Auch die Themen der Texte dieser Musik sind in Moll gehalten. Es geht um (verlorene) Liebe, Einsamkeit, Nostalgie und Sehnsucht. Laut Kärki betont der finnische Tango Elemente deutscher Marschmusik und russischer Romanzen. Die Beziehungen zu beiden Ländern waren im ausgehenden 19. Jahrhundert eng, Finnland stand als Großfürstentum noch unter der Ägide Russlands und in Leipzig studierten viele finnische Komponisten an der dortigen Musikhochschule. Das gerade entstehende Musikhochschulsystem wurde nach deutschem Vorbild aufgebaut; ähnliches galt für das Klangbild der Musikaufnahmen. Die Produktionsweisen änderten sich erst mit der Abkehr der Finnen von Nazideutschland.

In den vierziger Jahren wurde trotz des staatlichen Tanzverbotes weiter Tango getanzt. In den fünfziger und sechziger Jahren war der Tango, ähnlich dem hiesigen zeitgenössischen Schlager, zeitweise populärer als Elvis oder die Beatles. Auf den Tanzbühnen der ländlicheren Gegenden tanzte man neben den traditionellen finnischen Jenkkas und Humppas nun den Tango. Während des kalten Krieges war Finnland wirtschaftlich und politisch eng mit den Staaten des Ostblocks verbunden. Urho Kekkonen, von 1956 bis 1982 Präsident der Republik Finnland, prägte diese Beziehungen entscheidend durch seinen autokratischen Führungsstil, dessen Auswirkungen auch nicht vor der Populärkultur haltmachten. Der nach heutigen Maßstäben vergleichsweise harmlose Song "Naiseni kanssa eduskuntatalon puistossa" ("Mit meiner Braut im Parlamentspark") von M.A. Numminen und Unto Mononen durfte um 1970 im Radio sechs Jahre lang nicht gespielt werden, da der Text das finnische Parlament verunglimpfe und zum Alkoholmissbrauch aufrufe.

Nachdem in den siebziger Jahren das Interesse an finnischem Tango abgeflaut war, erlebt der Tango seit den 1980er-Jahren einen steten Aufschwung. 1985 wurde das Festival "Tangomarkkinat" in Seinäjoki zum ersten Mal ausgerichtet, es kamen 18.000 Besucher. Heute tummeln sich zwischen den über 100.000 Besuchern alljährlich sogenannte Tangosheriffs, Profitänzer in Uniform, die den Amateuren den Takt vorgeben. Der finnische Tango wird seit einigen Jahren auch außerhalb Finnlands rezipiert. Beispielsweise der aus den neunziger Jahren bereits erwähnte Trikont-Sampler führte zu einem ersten Popularitätsschub in Deutschland. Veröffentlichungen von M.A. Numminen schafften es ins Feuilleton hiesiger Tageszeitungen und in die musikalische Fachpresse. Und nicht zuletzt Filme wie "Finnischer Tango - Ein Tanz in Moll" (2009) von Aune Stern oder "Mitternachtstango" (2013) von Viviane Blumenschein zeugen vom allgemeinen Interesse. Im September 2014 fand das erste Festival für finnischen Tango in Hamburg statt. Der Erfolg des finnischen Tangos lässt sich nicht leicht erklären: Viele Texte wurden in anderen Sprachen gesungen, beispielsweise in Schwedisch oder Deutsch. Neben den schwermütigen Liedern gibt es einige Kompositionen, die einen skurrilen Humor transportieren. Eine besondere Variante ist die Vertonung des "Tractatus Logico-Philosophicus" von Ludwig Wittgenstein durch M.A. Numminen aus dem Jahre 1966: 

Interessanterweise funktioniert hier das Zusammenspiel des klassischen philosophischen Zitats, einem Gesang, der an einen Teenager im Stimmbruch gemahnt und natürlich Tango ganz hervorragend. Nicht nur der Musik, sondern ganz im Gegenteil dem bekannten letzten Abschnitt des Traktats kommen ungeahnte Bedeutungsebenen hinzu. Numminen, der Deutsch lernte um Marx in Originalsprache lesen zu können, ist Wittgenstein mit Humor begegnet. Wovon man nicht sprechen kann, darüber kann man singen? Das gilt zum einen für schwierige politische Zeiten und Themen, zum anderen aber auch für ganz existenzielle Lebensfragen, und vielleicht ist dies das gesuchte Geheimnis des finnischen Tangos. Numminen behauptet auch -- hier wollen wir ihm einmal glauben -- dass die Finnen den Tango bräuchten, um sich fortzupflanzen. Die finnischen Männer könnten während des Tangotanzes und mithilfe der Texte ihren Tanzpartnerinnen sagen, wovon sie sonst schwiegen.