Die Stereoskopie war zur Zeit Gustave Caillebottes ein Zeugnis technischen Fortschritts und Unterhaltungsmedium für Bürger und Detailverliebte. An Faszination hat der Blick durch die zwei Linsen, der schon den Künstler inspirierte, auch heute nicht verloren.

Das Ding, das am Anfang der Reise steht, nennt sich Stereoskop. Ein Blick durch seine beiden Linsen enthebt den Betrachter in eine andere Welt. Prachtvolle Häuserreihen bohren sich scheinbar unendlich in die Tiefe des Bildes und Pferdekutschen drängen sich kess in den Vordergrund. Es ist die Welt des neuen Paris der 1860er-Jahre, so wie Gustave Caillebotte es erlebte.

Um eine solche Raumillusion herzustellen benötigt man zwei Darstellungen mit leicht verschobenem Standpunkt, eine für das linke, die andere für das rechte Auge. In gewisser Weise könnte das Stereoskop der Urgroßvater der heutigen 3D-Brille sein.

Ob „Boulevard Haussmann bei Schnee“ (1879 – 1881) oder „Boulevard des Italiens“ (1880), die Kompositionen Caillebottes vermitteln einen drastischen Eindruck von Unmittelbarkeit und Tiefe. Auch der Künstler war scheinbar im Bann der neuen Technik.

In klugen Köpfen erdacht

Schon 1838 erkennt der britische Physiker Charles Wheatstone das Prinzip des körperhaften Sehens durch beidäugige Wahrnehmung, sowie die unterschiedliche Wahrnehmung von weit entfernten und nahen Objekten – die Grundlagen der Stereoskopie.

Doch Wheatstones Erfindung war zwar bahnbrechend – sie hatte aber einen Haken. Die Technik basierte auf Handzeichnungen. Kaum ein Grafiker war in der Lage, die minimalen Abweichungen zwischen linkem und rechtem Bild bei komplexen Darstellungen korrekt umzusetzen. Die fotografische Revolution, die schon ein Jahr später durch die Erfindung der Daguerreotypie ausgelöst wurde, lieferte die Lösung für Wheatstones Problem. Doch obwohl Experimente mit der tiefenräumlichen Illusion unter Wissenschaftlern große Kreise zogen, war die Stereoskopie noch in den 1840er-Jahren kommerziell ein Flop

Die Große Wende kam erst 1851, auf der legendären Weltausstellung im Chrystal Palace in London. Sie katapultierte das neue Bildverfahren in ungeahnte Erfolgshöhen. Hunderte von Stereoskopen fanden Verbreitung im städtischen Bürgertum, das sich begeistert der Faszination der neuen Technik hingab. Gerüchte rankten sich sogar um eine Deluxemodell, dass für Queen Victoria angefertigt worden sein soll. Alle waren hingerissen vom wissenschaftlichen Fortschritt, der im wahrsten Sinne des Wortes durch die Stereoskopie plastisch vor Augen geführt wurde.

Kein Detail bleibt verborgen

Vues Instantanées, Augenblicksfotografien, nannte man die gestochen scharfen Momentaufnahmen, auf denen Fußgänger und Pferdewagen in der Bewegung festgehalten wurden. Ihr Geheimnis waren die kleinformatigen Negative, die der Stereoskopie eine deutlich kürzere Belichtungszeit als der Fotografie erlaubten. Wie die Realität erscheint auch das stereoskopische Bild unendlich komplex. Doch in der Bewegung festgefroren wartet es geduldig bis der aufmerksame Beobachter auch das kleinste Detail entdeckt hat.

Einen analytischen Blick bewies auch Gustave Caillebotte, der die Place Saint-Augustin (1877/78) mit der Kaserne Pépinière durch einen Standortwechsel aus leicht verschobenem Blickwinkel heraus, wie in einer unechten Stereoaufnahme, nochmals malte (Die Kaserne Pépinière, 1878).

Moderne Zeiten

Tausende von stereoskopischen Bildern wurden nun produziert, auf Glas, Film, Papier oder Daguerreotypie. Zeitweise erfreute sich die Stereoskopie größerer Beliebtheit als die Fotografie. Norwegen, Russland, Japan – ferne Länder konnten bald ohne die Strapazen einer Reise im heimischen Wohnzimmer betrachtet werden. Besonders beliebt waren die Prachtstraßen und Monumente der europäischen Metropolen. Reisende, die den Weg nach Paris nicht scheuten, fanden dort, in der Hauptstadt der Stereographie, in den 1860er-Jahren zahlreiche Verkaufsstände, die die dreidimensionalen Stadtansichten als Souvenir feilboten.

Die brillanten Stadtbilder aus dem Hause Ferrier père et fils & Soulier zeugen von der schillernden Stadtbühne, auf der sich ein Flaneure wie Caillebotte im haussmanisierten Paris bewegten. Das Bürgertum und der Wunsch nach einem zeitgemäßen, urbanen und weltmännischen Lebensstil beflügelten den Erfolg der kleinen und großen Schauapparate.

Caillebotte, gleichermaßen Teil der wohlhabenden bürgerlichen Gesellschaft und raffinierter Beobachter seines Umfeldes, verstand es wie kein Zweiter, die neuen Eindrücke des populären Mediums mit gestochen scharfer Optik in phantastische malerische Impressionen zu übersetzen. In der Ausstellung „Gustave Caillebotte. Ein Impressionist und die Fotografie“ kann der Besucher mittels Schaukästen durch die Straßen von Paris schlendern um danach den Impressionisten mit völlig anderen Augen zu entdecken.