Das 19. Jahrhundert war die Hochzeit der Physiognomik, die auch ihre Auswirkungen in der Kunst hatte, wie der Besucher eindrucksvoll in der Ausstellung „Théodore Géricault. Bilder auf Leben und Tod“ nachvollziehen kann.

Der menschliche Gesichtsausdruck war zu Lebzeiten Géricaults und weit darüber hinaus von zentralem Interesse. Vor allem die Frage nach der Verknüpfung psychischer Disposition und äußeren Merkmalen interessierte sowohl Wissenschaftler als auch Künstler. Mit diesem Interesse brach eine neue Blütezeit der Physiognomik an, die es als möglich ansah, anhand des Gesichts auf den Charakter eines Menschen zu schließen. Reizvoll, gefährlich, absurd aus heutiger Sicht. Der Schweizer Pfarrer Johann Caspar Lavater verhalf der Physiognomik im späten 18. Jahrhundert zu weitläufigem Erfolg. Die Wissenschaft – oder besser die Kunst – ist wahrlich viel älter.

Das Lesen des menschlichen Gesichts ist so alt wie die Menschheit, älter sogar als die Sprache. Schon vor Konfuzius gab es in China Gesichtsleser, Aristoteles widmete dem Thema sechs Kapitel in seinem Werk „Historia Animalium“. Das erste Buch über das Thema wurde 1272 vom Hofastrologen Friedrich II. verfasst. Er verband Physiognomik und Astrologie, das Schicksal eines Menschen wurde anhand der Venus-, Merkur- und Jupiterlinien auf dem Gesicht bestimmt.

Mit Lavater (1741-1801) erlebte die Physiognomik dann gänzlich neuen Aufschwung, sie war plötzlich europaweit en vogue. Durchreisende ließen sich in Zürich von ihm das Gesicht lesen, sein Durchbruch gelang ihm mit dem vierbändigen Opus „Physiognomische Fragmente“. Lavater erhob die Physiognomik jedoch nicht zur Wissenschaft. Ganz im Gegenteil glaubte er, die Fähigkeit, den Charakter eines Menschen lesen zu können, sei (ihm) angeboren.

Rückschlüsse auf den Charakter des Menschen

Cesare Lombroso (1836-1909) brachte System in die Physiognomik und entwickelte einen Kodex, mit dem man Verbrecher an ihrem Äußeren identifizieren konnte. Kriminelle hatten demnach vorstehende Schneidezähne (ähnlich einem Nagetier), entweder ein fliehendes oder ein großes und flaches Kinn, wenig oder gar keinen Bartwuchs, buschige, eventuell auch zusammengewachsene Augenbrauen. Mörder hatten nach Lombroso öfter schwarzes als blondes Haar, Betrüger meist gelocktes.

Noch vor Lombroso trat Franz Joseph Gall (1758-1828) auf den Plan. Er entwickelte die „Wissenschaft“ der Phrenologie. Diese beschäftigte sich mit den Ausformungen des Schädels und erlaubte sich davon ausgehend Rückschlüsse auf den Charakter eines Menschen ziehen zu können. Der Schädel wurde in 35 Zonen eingeteilt, die jeweils mit einer menschlichen Eigenschaft korrespondieren sollten.

Eine enge Stirn birgt kriminelles Potenzial

Die unterschiedlichen Ausformungen der Physiognomik nahmen zwangsläufig Einfluss auf die Künste. Der Bildhauer David d’Angers nahm regelmäßig an den Sitzungen der Société des études phrénologique teil. Mit dem Weglassen oder Hinzufügen bestimmter Schädelbeulen schuf er besondere, aber auch idealisierte Porträts. Bereits 1806 hatte der schottische Anatom Charles Bell Künstlern empfohlen, das Wechselverhältnis von Körper und Geist zu studieren, besonders für die Darstellung des Leidens. Ausdruck fand dies etwa in den „tête d’expressions“ – Zeichnungen oder Gemälde, die das Gesicht als Träger emotionaler Empfindungen darstellen. Es sind keine Porträts, denn die Modelle bleiben anonym. Ihr Gesicht dient einzig dem Ausdruck der meist extremen Gefühlsregungen, Wahnsinn, Hass, Eifersucht.

Dass es noch heute eine „Volks-Physiognomik“ gibt, ist kaum zu leugnen. Landläufig beurteilen wir Menschen mit „Babygesicht“ als lieb und warmherzig. Eine hohe Stirn bringen wir noch immer mit Intelligenz in Verbindung, eine enge Stirn hingegen mit kriminellem Potenzial. Wir können dies mit Augenzwinkern abtun oder darin den menschlichen Wunsch ablesen, in kürzester Zeit den menschlichen Charakter erfassen zu können. Dass dies unter Umständen sehr gefährlich sein kann, hat die Rassenpolitik des Nationalsozialismus gezeigt, die sich u.a. auf Lombroso berief.