Über 140 Gemälde, Fotografien, Zeichnungen, Skulpturen, Lithografien, Radierungen, Aquarelle und Filmmaterial aus Edvard Munchs Werk kommen nach dem großen Erfolg in Paris nach Frankfurt – die Ausstellung eröffnet eine ganz neue Perspektive auf das faszinierende Oeuvre des norwegischen Künstlers.

Plakate in ganz Paris und lange Schlangen vor dem Centre Pompidou läuteten im September vergangenen Jahres ein Kunst-Spektakel ein. Die große Edvard Munch-Schau im sechsten Stock des gigantischen gläsernen Baus, von dem aus sich ein wunderbarer Blick über Paris und auf den Eiffelturm eröffnet, hielt was sie versprach. Sie zeigt den norwegischen Künstler, wie Europa ihn bis dato nicht gesehen hat: Munch, der Cineast. Munch, der Fotograf. Munch, der Autobiograph. Noch bis zum 23. Januar können sich die Pariser von dem Bilderrausch einnehmen lassen, dann wird gepackt -- das wertvolle Gut macht sich auf den Weg nach Frankfurt, um ab dem 9. Februar in der SCHIRN ein deutsches Publikum zu überraschen.

Die von Angela Lampe und Clément Chéroux kuratierte Schau „Edvard Munch: Der moderne Blick" lässt das beeindruckende Werk des Norwegers in neuem Licht erscheinen. 1863 geboren, lebte Munch in einer bewegten Zeit. Die Technik der Fotografie machte rasante Fortschritte, 1895 präsentierten die Brüder Lumière in Paris die ersten Filme vor großem Publikum und eine nie dagewesene Bilderflut veränderte den Blick auf die Welt. Der junge Munch verfolgte die Entwicklung begeistert. Vor allem das bewegte Bild hatte es ihm angetan: Er ging regelmäßig ins Kino und sah sich Wochenschauen oder die Filme von Charlie Chaplin an.

Kino als Inspirationsquelle

Im Centre Pompidou betrachten Besucher die wenigen erhaltenen Minuten von Munchs filmischen Experimenten andächtig. 1927 kaufte er eine kleine Amateurfilmkamera, filmte einfache Szenen des urbanen Lebens, nahm heimlich seine Tante und seine Schwester auf und trat selbst vor die Kamera. Auch eine Reihe von Gemälden zeigt, wie Munch die neue cineastische Erfahrung verarbeitete: Sie nehmen Kameraperspektiven ein, schneiden Motive am Bildrand an und halten Szenen von Bewegung fest. Er malte zum Beispiel „auf die Kamera" zukommende Menschen und Pferde -- beliebte Motive im frühen Kino.

Im Grunde war es für einen Maler wie Munch naheliegend, sich für das neue Medium zu begeistern, schließlich brachte Kino von Anfang an auch große Gefühle auf die Leinwand. Die Schau zeigt viele bekannte Munch-Gemälde, die um Emotionen wie Liebe, Angst oder Trauer kreisen. Über die Jahre hinweg fertigte er zahlreiche Varianten seiner Schlüsselmotive an, fast so, als erzielte er durch die ständige künstlerische Auseinandersetzung damit eine kathartische Wirkung. Immer wieder malte er zum Beispiel „Das kranke Kind". Er behandelte darin den frühen Tod seiner an Schwindsucht erkrankten Schwester Sophie.

Obsession Selbstporträt

Schon 1902 hatte sich Munch in Berlin eine Kodak-Kamera gekauft und begonnen, zu fotografieren -- vor allem sich selbst. 1924 kam schließlich die erste Kleinbildkamera auf den Markt und machte die Fotografie mobiler und schneller. Bis zu seinem Tod im Jahr 1944 lichtete er sich immer wieder ab, von vorne, im Profil, in Großaufnahmen oder Totalen, in seinem Atelier oder im Freien.

Eine Ästhetik der Social Media-Plattformen

Munch bewies einen geradezu prophetischen Blick: Oft hielt er die Kamera mit dem Objektiv zu sich gedreht einfach ausgestreckt vor sich hin und löste sie aus, eine Ästhetik, die heute die Bildergalerien der Social Media-Plattformen dominiert. Das Centre Pompidou präsentiert die intimen kleinformatigen Bilder in runden Räumen -- der Betrachter ist regelrecht von Munch umzingelt. Natürlich porträtierte er sich auch in einer Vielzahl von Gemälden selbst: Je älter er wurde, desto häufiger malte er sich. So entstand eine visuelle Autobiographie, die in der bildenden Kunst ihresgleichen sucht. Selbst ein Röntgenbild von Munchs Hand aus dem Archiv des Künstlers ist in der Schau zu sehen. Bei einem Streit mit seiner Verlobten Tulla Larsen hatte er sich versehentlich mit einer Pistole in die linke Hand geschossen. Die den Blick ins Innere ermöglichenden Strahlen hatte Wilhelm Conrad Röntgen 1895 entdeckt, dem Jahr, das auch den Beginn der Geschichte des Kinos markiert.

Nachdem rund eine halbe Million Kunstbegeisterte in Paris Munchs Werk neu entdecken konnten, ist nun Frankfurt an der Reihe. Am 13. Mai zieht die eindrucksvolle Ausstellung dann weiter nach London in die Tate Modern. Munchs facettenreicher Blick begeistert Europa -- wir freuen uns auf die große Eröffnung am 8. Februar in der Schirn.