Bild, Bewegung, Raum: Die formalen Grenzen des Films testend und erweiternd, knüpft Doug Aitken an die experimentelle Praxis des Expanded Cinema an.

Wie lässt sich das filmische Bild in den Raum übertragen? Welche Rolle spielt der Zuschauer? Was kann, was soll Film sein? Ab den 1990er-Jahren integriert Doug Aitken in seinen kinematografischen Installationen vielzählige, oft übergroße Screens oder Projektionen, die sich den Ausstellungsraum zu eigen machen und den Zuschauer umschließen oder sich als Parcours darbieten, der durchlaufen werden muss. Für den Film selbst hat dies zur Folge, dass er nie losgelöst, sondern immer als eine fragmentarische Vielheit wahrgenommen wird. Die Betrachter werden einem Zusammenspiel von Bild, Ton und räumlichen Strukturen ausgesetzt, werden Teil einer Figuration, die notwendigerweise gebrochen und asynchron bleibt. So fordert Aitken die Grenzen der Erfahrung von Zeit, Raum und auch Bild immer wieder heraus und die Zuschauer dazu auf, den Film mental zu komplettieren. Ein Bestreben, das er mit jener Künstlergeneration teilt, die sich der Erweiterung des Films in den 1960er-Jahren zuwandte. Der Medientheoretiker Gene Youngblood begründet mit seiner theoretischen Erörterung den Diskurs um das „Expanded Cinema“.

Installationsansicht: Aldo Tambellini: Black Zero, 1965, Image via Data Garden

Filmemacher wie Tony Conrad, Stan Brakhage, Anthony McCall, Stan Vanderbeek, Andy Warhol oder auch die deutschen Künstler Birgit Hein und Peter Weibel widmen sich ab den 1960er-Jahren eingehend dem Film. Ihr gemeinsames Ziel: das Medium buchstäblich aus seiner tradierten räumlichen Anordnung zu befreien und ihn auf neue Weise erfahrbar zu machen. Bereits die filmische Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts experimentierte mit den formalen Strukturen des Films. Doch wurde Film ab den 60er-Jahren, durch Mehrfachprojektionen, skulpturale Installationen, Live-Performances, Sound-Experimente und eine intendierte Einbeziehung der Zuschauer nicht nur strukturell und ästhetisch neu gedacht. Vielmehr ging es um einen neuen Modus der Kunsterfahrung und der filmischen Sprache, den Gene Youngblood als „synästhetisch“ bezeichnet, also als sinnlich-ästhetische Erfahrung, die, im besten Fall, bewusstseinserweiternd wirkt. Das synästhetische Kino ist, so Youngblood, relational, es konstituiert sich durch die Zusammenwirkung vielerlei Faktoren und Beziehungen. Die formalen und inhaltlichen Informationen des Bildes wie auch die Fähigkeit der Zuschauer, diese wahrzunehmen, zusammenzusetzen und zu interpretieren sind essentielle Bestandteile eines jeden Films. Den Betrachtern kommt so eine aktive Rolle zu – sie werden nicht nur aufgefordert, sich in filmischen Installationen zu bewegen, sondern vervollständigen den Film gar erst durch ihre Wahrnehmung.

Stan Vanderbeek, Movie Drome, 1963, Image via npr

Der Film im Expanded Cinema will weder erzählen noch darstellen, auch verzichtet er auf herkömmliche narrative Strategien und Muster. Form und Inhalt verschmelzen, es entstehen fließende Bildwelten. Die neue Art des Sehens, der synästhetische Modus, lässt dann eine besondere Form des Bewusstseins hervortreten, die Youngblood in Anlehnung an Sigmund Freud als „ozeanisches Bewusstsein“ bezeichnet: im Betrachten jener Bildwelten verlieren sich Blick und Geist gleichermaßen, um sich dann für neue Sinneserfahrungen zu öffnen. Was hier ein wenig nach New Age Mentalität klingt, ist tatsächlich eine sehr konsequente Analyse der technischen und künstlerischen Entwicklungen jener Zeit. Denn Youngblood argumentiert, dass mit der steigenden Popularität des Fernsehens das Kino von seiner „Pflicht“ befreit wurde, das menschliche Leben widerzuspiegeln. Vielmehr kann und muss das Kino nun seine eigenen Grenzen überschreiten, sich neuen Gebieten annehmen. Die synästhetische Sprache des Kinos sei nur adäquat für das postindustrielle Informationszeitalter, in welchem sinnliche Erfahrung nicht mehr uniform und linear, sondern an elektronische, sich in alle Richtungen ausbreitende Informationen gekoppelt ist.

...wo das Selbstsein vollständig mit einer halluzinatorischen Landschaft verschmilzt

Martin Herbert

Doug Aitkens „Black Mirror“ von 2011 wurde bereits in einem Schlachthaus und auf einem Schiff präsentiert, als multimediales Event, das Installation, Performance und Bühnenstück zugleich ist. Auf Bildschirmen flimmert hektisch zusammengeschnittenes Filmmaterial, das die immer gleiche Protagonistin an Orten auf der ganzen Welt zeigt. Zeitgleich bewegt sich dieselbe Frau, die Schauspielerin Chloë Sevigny, in einer räumlichen Installation, mal liegt sie im Bett eines kargen Hotelzimmers, mal steht sie auf einer Tribüne, umgeben von Stangentänzerinnen, Tänzern oder Musikern. Eine Geschichte wird angedeutet, jedoch nicht zu Ende erzählt. Stattdessen: Fragmente, Rückkopplungen, Überschneidungen und Verlagerungen. Um sich in diesem kaleidoskopischen Gefüge zu orientieren, muss der Zuschauer die auditiven wie visuellen Informationen sammeln und zusammensetzen. Und, wie Martin Herbert feststellt, die eigene Bedeutung aufs Spiel setzen, um an einen Ort zu gelangen „wo das Selbstsein vollständig mit einer halluzinatorischen Landschaft verschmilzt“.

Wenn es im Expanded Cinema der 1960er-Jahre darum ging, die formalen Grenzen des Films zu erweitern, so verfolgt Doug Aitken dieses Ziel konsequent weiter, und zwar mit den technischen Mitteln und den Themen der Gegenwart. Im Fall von „Black Mirror“ heißt das: sich auf schönste Weise zu zerstreuen und zu verlieren, nur um sich an einem anderen Ort wieder zu finden.