In Paul Kuimets Filmen wird statischen Gegenständen Leben eingehaucht und Licht ins Dunkel gebracht.

Langsam und behutsam umkreist die Kamera ein enigmatisches Objekt. Die unzähligen Ecken und Kanten des dreidimensionalen Polyeders, teils im Schatten, teils im Licht, tastet die Linse in zunächst respektvollem Abstand ab. Das monochrome Filmbild scheint dabei ganz dem lateinischen Sprichwort „Lucem demonstrat umbra“ (Erst der Schatten zeigt das Licht) zu folgen: Eine einzelne Lichtquelle, von der linken Seite in das Bild hineinscheinend, fokussiert das seltsame Gebilde. 

Immer näher wagt sich die Kamera in dem acht-minütigen „Exposure“ (2016) von Paul Kuimet an den Gegenstand heran, erkundet dessen Geometrie sowie die metallischen Elemente, die mysteriös aus ihm herausragen. Doch die Kamera ist nicht die einzige Variable: Auch das Licht scheint sich zu bewegen, verändern sich doch die Schatten auf dem offenkundig statischen Objekt, das Licht legt neue Flächen frei, die metallischen Elemente verdunkeln aber gleich wieder immer größer werdende Abschnitte.

Der Gebrauchsgegenstand wirkt hier wie ein Relikt aus mystischen Zeiten

Der hier abgefilmte Polyeder, noch genauer ein Kuboktaeder, bestehend aus sechs Quadraten und acht gleichseitigen Dreiecken, ist eine exakt gefertigte Nachbildung der Ringenberger Mehrflächen-Sonnenuhr aus dem 17. Jahrhundert: Alle 24 Kanten sind somit gleich lang und stehen symmetrisch zueinander. Die metallischen Elemente sind Schattenwerfer, die auf 13 Seiten der Sonnenuhr mithilfe von Stundenlinien eine für jene Uhren-Art ungemein genaue Zeitangabe ermöglichten. All das verrät Kuimets „Exposure“ freilich selbst nicht: Der Gebrauchsgegenstand wirkt hier, nicht zuletzt aufgrund der szenischen Beleuchtung, wie ein Relikt aus mystischen Zeiten, dessen Nutzwert dem Betrachter sich vielleicht auch deshalb sich nicht sofort erschließen mag, da ihn eine nahezu okkulte Aura umgibt.

Paul Kuimet, Exposure (Filmstill), 2016 © Paul Kuimet

Paul Kuimet, Exposure, Ausstellungsansicht, 2016, Image via paulkuimet.ee

SCHIRN INTERVIEW MIT PAUL KUIMET

Die titelgebende „Exposure“, gemeinhin also die Offenlegung bzw. Bloßstellung, ist hier vielmehr auch in seiner fotografischen Bedeutung der Belichtung mitzudenken: Das Dunkle des Filmmaterials nimmt das Licht auf und erst hierdurch wird eine Abbildung sichtbar – erst der Schatten zeigt das Licht. Ganz so, wie bei der Sonnenuhr äquivalent erst der Schatten die Nutzbarkeit des Lichtes vollzieht. Die „Exposure“ betreibt Kuimet hier noch in einem weiteren Sinne: Durch die kontrastreichen Aufnahmen dringt das Medium selbst in den Vordergrund; die Grobkörnigkeit des 16mm-Filmmaterials legt sich wie ein lebendiger Schleier über das Gezeigte.

Das Material läuft in einer Endlosschleife während Stillleben lebendig werden

Eine sorgfältig geplante Kamerafahrt um ein abstraktes Objekt taucht bei Paul Kuimet (*1984) auch in „2060“ (2014) auf: Die Kamera umkreist in dem Film-Loop eine in sich selbst gewundene Skulptur des ebenfalls aus Estland stammenden Künstlers Edgar Viies, eine Möbiusschlaufe par excellence. Diese wiederum überträgt sich auf Produktionsmittel der Arbeit selbst, da das Filmmaterial für die Projektion in unendlicher Wiederholungsschlaufe durch das Filmvorführgerät geführt wird, ohne sichtbaren Start- oder Endpunkt. In anderen Arbeiten wie „Still Life“ (2016) hauchte der Künstler fotographischen Stillleben mittels filmischer Schnitttechniken Leben ein. Für die Ausstellung „Notes on Space“ aus dem Jahre 2013 hatte Kuimet zuvor über hundert Fotografien von Monumentalkunstwerken quer durch Estland angefertigt, von denen hier eine Auswahl zu sehen war.

Paul Kuimet, Still Life, Ausstellungsansicht, 2016, Image via www.paulkuimet.ee

Nach einem Gespräch Paul Kuimets mit Kurator Matthias Ulrich wird im zweiten Teil des Abends sein Lieblingsfilm „L’Eclisse“ (1962) des italienischen Regisseurs Michelangelo Antonioni zu sehen sein. Dieser war der Abschluss einer Trilogie Antonionis, dem „L'Avventura“ (1960) und „La Notte (1961) vorausgegangen waren. „Liebe 1962“ wurde “L’Eclisse“ in Deutschland, wo Uneindeutigkeiten und Ambivalenzen nie besonders viel Platz eingeräumt wurde, plump betitelt. Der Film begleitet die junge Vittoria (Monica Vitti), die zu Beginn die langjährige Beziehung mit Riccardo (Francisco Rabal) beendet. An der römischen Börse, wo ihre Mutter sich als Spekulantin versucht, lernt sie daraufhin den jungen Makler Piero (Alain Delon) kennen, mit dem sich schon bald eine Liaison anbahnt. 

Als eigentlichen Protagonisten des Films könnte man jedoch die Architektur Roms bezeichnen. Minutenlange Einstellungen fangen diese in kontrastreichen Bildern ein und scheinen jene Gefühlszustände zu vermitteln, derer sich die Protagonisten ausgesetzt sehen, ohne ihnen irgendetwas entgegensetzen zu können: Die römische Börse, deren reges Treiben hier noch jenem auf einer Pferderennbahn gleicht, erscheint hier wie der Jerusalemer Tempel, den Jesus im Neuen Testament erzürnt von Händlern und Gauklern „gesäubert“ hatte; das vom faschistischen Diktator Benito Mussolini ab 1938 errichtete neue Stadtviertel „Esposizione Universale di Roma“, kurz EUR, in dem Großteile des Films gedreht wurden, mutet in seiner kalten und menschenleeren Inszenierung wie die architektonische Manifestation der Gefühlsverwirrungen der Protagonisten an. „L’Eclisse“ schließt so auch mit einer minutenlangen Montage jener Orte, an denen sich Vittorias Kennenlernen mit Piero abspielte, allein: sie sind gottverlassen, und schon bald bricht die titelgebende Finsternis an.

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