Immer wieder setzt sich Christoph Keller in seinen Arbeiten mit wissenschaftlichen Konzepten auseinander. Im Double Feature am 30. Juli präsentiert er seinen künstlerischen Essayfilm „ANARCHEOLOGY“.

„ANARCHEOLOGY“ steht zu Beginn des gleichnamigen Films von Christoph Keller in großen, weißen Lettern auf schwarzem Hintergrund. Das darauffolgende Bild gibt den Blick frei auf ein Schwarzweiß-Foto der Ponto Rio Negro, einer großen Brücke bei Manaus, Brasilien. Jene formale Dichotomie des Filmbildes entspinnt sich im Folgenden immer weiter: Texttafeln auf schwarzem Hintergrund wechseln sich wie ein Reisebericht mit Fotografien von menschenleeren Landschaften im Amazonas ab. „The text I want to write is about archeology as a paradigm in the western tradition of art” sind die ersten Sätze des tonlosen Erzählers, der sich ausschließlich mittels Schrift mitteilt.

In geschrieben Worten entstehen in der Folge Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Geschichtsschreibung, dazu ob und wie sich "oral history" in geschriebene Sprache und hiermit also generell Wissen übersetzen lässt, denn, so der Erzähler, "writing changes it all". Die Texttafeln lassen sich in drei Textpassagen in unterschiedlichem literarischem Stil unterteilen: zunächst die Auseinandersetzung mit der titelgebenden „Anarcheology“, nahtlos übergehend in eine persönliche Geschichte, an die abschließend der Schöpfungsmythos der Yanomami, einer indigenen Volksgruppe im Amazonas-Gebiet, anknüpft.

Eine Nicht-Geschichte des Denkens

Doch was genau beschreibt der titelgebende Begriff „Anarcheology“? It „is a semiotic divisor splitting the world into halves, the archeological and the non-archeological. It is a term that evokes something not yet known“, sagt Keller dazu im Interview mit der Kulturtheoretikerin Ana Teixeira Pinto.

Christoph Keller, Anarcheology, 2014 © Christoph Keller, courtesy the artist and Esther Schipper

Der Begriff wurde vom französischen Philosophen Michel Foucault in seinem Vortrag „Du gouvernement des vivants“ 1980 eingeführt. Kellers Arbeit geht von Foucault aus, der sein methodisches Konzept einer „Archäologie des Wissens“ mit der Einführung des Begriffs der „An-Archeology“, einer „non-history of thought“, wie es im Film heißt, weiter radikalisiert. Diese „non-history of thought“ könnte man auffassen als das genaue Gegenteil vom wissenschaftlichen Geschichtsverständnis, das sich fast ausschließlich auf das verschriftlichte Wissen beschränkt, als ein Verständnis, das vielmehr das Lebendige, Nicht-Geschriebene, mithin die mystische Welt einbezieht.

Nachdem jene Gedanken schließlich in einem Zitat Foucaults kulminieren, schwenkt der Erzähltext abrupt um in die unerwartet intime Geschichte einer namenlosen Frau, ihren Erlebnissen in der psychiatrischen Klinik La Borde, ihrem späteren Leben im Amazonas sowie ihrer Beziehung zu ihren Eltern. 

Anarcheology is a semio­tic divi­sor split­ting the world into halves, the archeo­lo­gi­cal and the non-archeo­lo­gi­cal. It is a term that evokes some­thing not yet known.

Christoph Keller
Christoph Keller, Anarcheology, 2014 © Christoph Keller, courtesy the artist and Esther Schipper

Zum Ende hin, während die grobkörnigen Schwarzweiß-Bilder immer expressivere Aufnahmen aus dem Amazonasgebiet zeigen, werden die mythischen Erzählungen der Yanomami, auf die bereits zu Anfang der Arbeit rekurriert wurde, wiederaufgegriffen.

Wissenschaft als Grundlage für Kunst

In vorangegangen Arbeiten des in Berlin lebenden Christoph Keller hatte sich der Künstler immer wieder mit wissenschaftlichen Konzepten auseinander gesetzt: In „Encyclopaedia Cinematographica“ bearbeitet er Filmmaterial eines gleichnamigen Projekts des Instituts für wissenschaftlichen Film in Göttingen, das sich zur Aufgabe gestellt hatte, in „kleinsten thematischen Einheiten“ die gesamte gegenständliche Welt zu dokumentieren. In anderen Arbeiten beschäftigte sich Keller, der zunächst Mathematik, Physik und Hydrologie studierte, mit wissenschaftlichen Randgebieten: Im „Cloudbuster-Project“ am P.S.1 in New York führte Keller reenactments der späten „Wetter-Experimente“ des österreichischen Arztes und Psychoanalytikers Wilhelm Reich durch, in Arbeiten wie „The Chemtrails Phenomenon“ setzt er sich mit Verschwörungstheorien auseinander.

Christoph Keller, Anarcheology, 2014 © Christoph Keller, courtesy the artist and Esther Schipper
Christoph Keller, Anarcheology, 2014 © Christoph Keller, courtesy the artist and Esther Schipper

In der Ausstellung „Aether – from Cosmology to Consciousnes” (2011) im Pariser Centre Pompidou thematisiert er die Wechselbeziehung von Wissenschaft und moderner Kunst ausgehend vom Konzept des Äthers, in dem Film bzw. der Ausstellung „Small Survey on Nothingness“ (2014) wird in verschiedenen Episoden die Verbindung des „Nichts“ zur westlichen Kultur erforscht.

Mit „W.R. – Misterije Organizma“ des serbischen Regisseurs Dušan Makavejev zeigt die SCHIRN im Anschluss einen Film, der nach Veröffentlichung 1971 bis in die 1980er Jahre hinein in Jugoslawien verboten war. Wie das Kürzel „W.R.“ im Titel schon andeutet, treffen wir auch hier wieder auf den überaus umtriebigen Wilhelm Reich. In einer fulminanten Montage aus dokumentarischen Aufnahmen und Spielfilmszenen verwebt Makavejev sein Werk, das sich zunächst wie eine Dokumentation über Reichs Zeit in den USA, seine Inhaftierung und die von ihm entwickelte Orgontherapie geriert, zu einem essayistischen Film rund um sexuelle Befreiung und politische Revolution.

Christoph Keller, Anarcheology, 2014 © Christoph Keller, courtesy the artist and Esther Schipper

Pflas­ter­steine, Kugeln, Slogans, Musik. Genauso ist es mit Film. Wir können benut­zen, was uns in die Hände fällt: Fiktion, Doku­men­ta­tio­nen, Kultur­filme, Werbung. Es kommt nicht auf den Stil an. Man muss sich den Über­ra­schungs­mo­ment zunutze machen.

Dušan Maka­vejev

Die narrative, bisweilen surrealistisch anmutende Rahmenhandlung um die hochpolitisierte Milena, die sexuelle Befreiung als Gegenmittel zu Faschismus und Unterdrückung propagiert, wird immer wieder gegengeschnitten mit Sequenzen aus Micheil Tschiaurelis propagandistischem Stalin-Film „Kljatwa“ oder Aufnahmen von Tuli Kupferberg, Beatnik, Poet und Gründungsmitglied der amerikanischen Band ‚The Fugs‘, der im martialischen Aufzug samt Spielzeugmaschinengewehr durch Downtown Manhattan marschiert. Die filmische Tour-de-force fasste Dušan Makavejev in einem Kommentar über subversiven Filmstil vielleicht am besten selbst zusammen: "Pflastersteine, Kugeln, Slogans, Musik. Genauso ist es mit Film. Wir können benutzen, was uns in die Hände fällt: Fiktion, Dokumentationen, Kulturfilme, Werbung. Es kommt nicht auf den Stil an. Man muss sich den Überraschungsmoment zunutze machen.“

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