Die Videoarbeiten von Alexey Vanushkin präsentieren dem Betrachter eine ganz eigene Bilderflut, geschöpft aus dem visuellen Über­an­ge­bot der Massenmedien.

Das Internet, ein riesiges Fotoalbum, in das jeder seine Schnappschüsse reinkleben kann. Wikimedia Commons, eine Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien, nutzbar für jedermann, umfasst mehr als 50 Millionen Mediadateien: Das Gesamtvolumen der Sammlung beträgt über 41 Terabyte Daten – 40 Terabyte hiervon sind allein Bilddateien. Und die Bildersammlung wächst stetig an. 2014 bereits wurden durchschnittlich 1.8 Milliarden Bilder pro Tag hochgeladen, über das Jahr verteilt machte das eine stattliche Summe von 657 Milliarden Fotos aus.

Mit wenigen Klicks kann man sich so problemlos und in Sekundenschnelle durch verschiedene Lebensrealitäten klicken, von Babyfotos über die obligatorischen Tierbilder bis hin zu dokumentarischen Fotos aus Kriegsgebieten . Doch was anfangen mit der Bilderflut, die einem da täglich aus dem Web entgegenschlägt?

Kitschige Synthe­si­zer-Sounds wechseln sich mit einer Spiel­do­sen-Melo­die ab

Die Videoarbeiten „The Wandering Kind“ (2016) und „Alphabet“ (2017) von Alexey Vanushkin, der am Novosibirsk State College of the Arts und an der Städelschule in Frankfurt bei Douglas Gordon studierte, präsentieren dem Betrachter ganz eigene Bilderfluten. In „The Wandering Kind“ collagiert Vanushkin eine Kombination aus hauptsächlich Schwarz-Weiß-, einigen Farb-Fotos und Videoausschnitten: Werbebilder, Fotos aus Krisengebieten, vermeintliche Schnappschüsse oder Kunstdrucke werden da aneinander gereiht, auf der Tonspur wechseln sich kitschig-sphärische Synthesizer-Sounds mit einer ziellos vor sich hin pluckernden Spieldosen-Melodie ab.

Alexey Vanushkin, The Wandering Kind (Filmstill), 2018 © Alexey Vanushkin

SCHIRN INTERVIEW MIT ALEXEY VANUSHKIN

Allein das titelgebende „Wandering Kind“ bricht hier die Bedeutungsschwere der Collage: Ein Zeichentrick-Penis ist da zu sehen, steht regungslos da, trottet dann wieder langsam und bedröppelt durchs Bild oder, ja, regt sich freudig in die Höhe. Dem doch auffälligen „Wandering Kind“ gehört auch der Anfang des Films: Auf weißem Hintergrund zoomt das Bild immer näher an den Zeichentrick-Phallus heran, bis er sich plötzlich in einer düsteren Landschaft wiederfindet. „When I woke up, I had this bittersweet feeling of wanting to never wake up and keep dreaming, because whatever the dream was it was so much better than today or tomorrow”, steht dann zu lesen, bevor die Bilderflut beginnt.

In “Alphabet” strukturiert Alexey Vanushkin jenes Konvolut in einem gänzlich anderen Kontext: Knapp fünf Sekunden ist hier jedes Standbild zu sehen, das die Kamera mal von rechts nach links abfährt, in das sie mal hinein- oder herauszoomt.

When I woke up, I had this bittersweet feeling of wanting to never wake up and keep dreaming.

Alexey Vanushkin
Alexey Vanushkin, Alphabet (Filmstill), 2017 © Alexey Vanushkin

Über den Bildern prangen einzelne Wörter wie „attack“, „being“, „dream“ – das gesamte Alphabet wird langsam durchdekliniert. Auf der Tonspur wechseln sich verschiedene klassische Klaviermelodien ab, werden abrupt mit dem Schnitt beendet, bis sie sich später ineinander verweben und kurzzeitlich zu polyphonen, leicht dissonanten Klangstrukturen verschmelzen.

Das Alphabet wird hier auf seine Bedeutungsmöglichkeit untersucht

Hatte der avantgardistische Experimentalfilmer Hollis Frampton in „Zorns Lemma“ (1970) anhand des Alphabets eine Art nonverbale Zeichensprache entwickelt, wird hier das Alphabet eher auf seine Bedeutungs- und Zuordnungsmöglichkeit untersucht. Auf einem historischen Bild der „Omaha Race Riots“ und des damit verbundenen Lynchmords an Will Brown prangt „Knowledge“ in roten Lettern über dem Bild. „Faithful“ steht über einem Szenario von Hitlerjugendlichen, die im Halbkreis vor einem Radio sitzen. Allesamt Bilder , die es immer wieder von Neuem ins kollektive Gedächtnis zurückzurufen gilt. Wegschauen ist jedenfalls keine Option, das macht Alexey Vanushkin deutlich.

Hollis Frampton, Zorns Lemma (Filmstill), 1970, Image via anthologyfilmarchives.org

Als Lieblingsfilm hat sich Alexey Vanushkin für „Blue“ (1993) von Derek Jarman entschieden. Die letzte Arbeit des Filmemachers und Künstlers erschien vier Monate bevor Jarman an den Folgen seiner Aids-Erkrankung starb. In einer einzigen Einstellung zeigt der Film die Farbe Blau mit einer musikalischen Tonspur und einem Voice-Over des Künstlers selbst. Zu der Zeit bereits teilweise erblindet, dokumentiert der poetische und tagebuchartige Text Jarmans Krankheit und bevorstehenden Tod. Das satte Blau – eine Referenz auf Yves Klein – und der auditive Essay fügen sich zu einer autobiographischen und zugleich philosophischen Auseinandersetzung mit dem monochromen Blau als Symptom seiner Erkrankung sowie in seiner Symbolik als Farbe zusammen.

Derek Jarman, Blue, 1993 © Basilisk Communications Ltd, 1993, Image via www.tate.org.uk

Dabei identifizierte sich Jarman mit Yves Kleins Konzeption der Farbe als Leere („void“) oder als Zone der Immaterialität. In einem späten Vorschlag für den Film erklärte der Künstler: „The monochrome is an alchemy, effective liberation from personality. It articulates silence. It is a fragment of an immense work without limit. The blue of the landscape of liberty.“ Wie eine Art Antithese zu Vanushkins Videoarbeiten, zeigt Jarman ein einziges Bild, das mit dem autobiographischen Essay zu einem poetischen und subjektiven Erlebnis verschmilzt. Dagegen erscheint Vanushkins Bilderflut aus tausenden Realitäten zusammengefügt. Während wir bei Jarman gewissermaßen vom Bild erlöst werden, sind wir bei Vanushkin der Welt der Bilder ausgeliefert.

It is a frag­ment of an immense work without limit. The blue of the land­scape of liberty.

Derek Jarman

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