Wirklichkeit oder Illusion: Die SCHIRN widmet sich in einer großen Ausstellung der Idee des inszenierten Sehens.

Ab 6. Oktober 2017 widmet sich die SCHIRN in einer großen Ausstellung einer Kulturgeschichte des Sehens. Im Zentrum steht das Diorama, das Ereignisse, Geschichten und Lebensräume mit unterschiedlichen gestalterischen Mitteln scheinbar wirklichkeitsgetreu arrangiert und rekonstruiert. Im 19. Jahrhundert von dem französischen Maler und Wegbereiter der Fotografie, Louis Daguerre, als eine mit Lichteffekten belebte Schaubühne konzipiert, wurde es als Schaukasten aus Glas für Naturkundemuseen die Präsentationsform schlechthin.

Das Diorama setzt die menschliche Kenntnis der Welt in Szene, nicht ohne dabei die Wahrnehmung des Betrachters zu beeinflussen und nachhaltig herauszufordern. Die Ausstellung ist die erste umfassende Untersuchung zum Diorama und thematisiert sowohl die unterschiedlichen Entstehungsgeschichten der Präsentationsform als auch Wechselwirkungen und parallelen zeitlichen Entwicklungen. Bis heute ist das Diorama eine wesentliche Inspirationsquelle: Zahlreiche Künstlerinnen und Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts setzen sich in ihren Arbeiten mit dem inszenierten Sehen auseinander, indem sie das Diorama und die Illusion einer Wirklichkeit hinterfragen und auflösen.

Die Kulturgeschichte des Sehens

Die Ausstellung in der SCHIRN präsentiert Frühformen des Dioramas in der religiösen Kunst, seine Anfänge in der Bühnen- und Schaustellerkunst des 19. Jahrhunderts und betrachtet das Diorama als bevorzugte museale Präsentationsform naturkundlichen und anthropologischen Wissens. Die Dekonstruktion des Dioramas in der Kunst der Gegenwart verdeutlichen raumgreifende Installationen, zeitgenössische Dioramen, Plastiken, Fotografien und Filme von Richard Baquié, Marvin Gaye Chetwynd, Mark Dion, Isa Genzken, Robert Gober, Mathieu Mercier, Kent Monkman, Hiroshi Sugimoto, Jeff Wall und anderen. In der Gesamtheit entsteht so eine chronologische Erzählung, die aus verschiedenen Perspektiven die Kulturgeschichte des Sehens wie auch des Ausstellens nachzeichnet.

Diorama by Daguerre and Bouton, photo MarieLince (Own work) [Public domain], Image via wikimedia.org

Jean Paul Favand, Naguère Daguerre 2, 2012, Musée des Arts Forains, © Jean Paul Favand, Foto: Jean Mulatier

Louis Jacques Mandé Daguerre (1781–1851) und Charles-Marie Bouton (1781–1853) gelten als Erfinder des Dioramas – einer optisch-mechanischen Schaubühne. Sie eröffnete erstmals 1822 in Paris und bot laut Daguerre „dem Betrachter alle Mittel der Illusion“. In diesem begehbaren Theater wurden auf große, semitransparente Leinwände gemalte Geschichten mit Licht und Bühnentechnik in Bewegung gesetzt. Der dadurch erweiterte Bildraum brachte eine neuartige und gesteigerte Qualität des Illusionismus hervor. Zahlreiche Schausteller eigneten sich dieses Verfahren an: So bestaunten Besucher auf Jahrmärkten beleuchtete Leinwände, Dioramen mit Szenen historischer Ereignisse, die von Automaten bewegt und von Orchestermusik begleitet wurden. Die Ausstellung in der SCHIRN zeigt u. a. die Arbeit "Naguère Daguerre" (2012) von Jean Paul Favand, der zwei aufwendig restaurierte Leinwände eines mechanischen Theaters aus dem 19. Jahrhundert zugrunde liegen. Mittels digitaler Technik werden die Leinwände beleuchtet, und erzählen vom Ausbruch des Vesuv in der Bucht von Neapel. Indem das Diorama bewegte Bilder auf eine Leinwand projizierte, wurde es zum Vorläufer des Kinos und der 3D-Technik.

Plastische Inszenierungen hinter Glas

Nach 1900 hat sich der Begriff Diorama in Europa und in den USA in seiner Bedeutung geändert und auf andere Bereiche ausgeweitet. Als Glasschaukasten etablierte es sich als bevorzugte Präsentationsform naturkundlicher, anthropologischer und historischer Museumssammlungen. Frühformen, sogenannte Proto-Dioramen, finden sich bereits in der religiösen Kunst. Es sind kleine und größere plastische Inszenierungen hinter Glas, die das Geheimnis des Glaubens anschaulich machen sollen. Als Objekte der Volksfrömmigkeit fanden sie insbesondere im 17. und 18. Jahrhundert weite Verbreitung. Die Ausstellung präsentiert u. a. Werke der neapolitanischen Wachspuppenmacherin und Nonne Caterina De Julianis (1695–1742), oder ein dreidimensionales Andachtsbild mit dem Titel "Paradis" aus dem 19. Jahrhundert sowie kleine Schaukästen, die mit äußerster Präzision vom Leben im Kloster erzählen.

Friedrich Justin Bertuch, Stich in illustriertem Kinderbuch mit Darstellung der Funktionsweise eines Dioramas, 1790–1830
Alaska-Schneeschaf, Denali National Park, © Übersee-Museum, Foto: Matthias Haase

Das Diorama als museale Installation mit illusionistischer Wirkung macht schließlich die Wissenschaft zur Bühne. Es ist eine komplexe Ausstellungsform, die – mit der Architektur häufig untrennbar verknüpft – durch das Arrangement von Objekten vor einem Hintergrundgemälde einen Lebensraum und das ursprüngliche Umfeld in Szene setzt. Das Diorama vereint nicht nur Objekte, sondern es wird selbst zu einem: Es kombiniert verschiedene Materialien wie u. a. Gips, Textilien, Fell, Papier, Holz und Farbe, die von Künstlern, Anthropologen und Museumspräparatoren handwerklich bearbeitet und gestalterisch zu einem Ganzen arrangiert werden.

Propagandistische Werkzeuge

Die SCHIRN präsentiert u. a. Gemäldestudien von 1926 für die African Hall im American Museum of Natural History (New York), die der bekannte Berggorilla-Forscher und Tierpräparator Carl Akeley (1864–1924) einrichtete, oder ein dreiteiliges Habitatdiorama, das den Lebensraum des Alaska-Schneeschafs veranschaulicht, sowie weitere naturkundliche Schaukästen der Künstler, Naturforscher und Tierpräparatoren Rowland Ward (1848–1912) und Edward Hart (1847–1928). Die ersten anthropologischen Dioramen tauchten ab den 1870er-Jahren in Europa auf und verbreiteten sich rasant. Diese Entwicklung wurde durch die Weltausstellungen in Paris unterstützt. Im Zeitalter des Kolonialismus dienten sie als propagandistische Werkzeuge und zur politischen Rechtfertigung hegemonialer Machtbestrebungen. Parallel dazu entwickelten sich volkskundliche Dioramen, mit dem Ziel, kulturelle materielle Erzeugnisse für die Nachwelt festzuhalten und somit vor allem die regionale Historie zu konservieren.

Hiroshi Sugimoto, Earliest Human Relatives, 1994, © the artist, Courtesy, Sugimoto Studio
Richard Barnes, Man with Buffalo, 2007, © Richard Barnes

Im Zuge der Neubeschäftigung mit dem Diorama Ende der 1960er-Jahre setzt zugleich seine Dekonstruktion in der Gegenwartskunst ein. Für diese Entwicklung ausschlaggebend ist die künstlerische Rezeption des Werkes "Étant donnés" (1946–1966) von Marcel Duchamp (1887–1968). Die SCHIRN zeigt eine detailgenaue Reproduktion dieser Arbeit des französischen Bildhauers und Objektkünstlers Richard Baquié (1955–1996), "Ohne Titel. Étant donnés 1° la chute d’eau, 2° le gaz d’éclairage" (1991). Durch zwei Löcher in einer Holztür blickt der Betrachter nicht auf eine Landschaft, sondern auf eine gesichtslose Frau mit gespreizten Beinen. Duchamps legendäre Gebrauchsanweisung zu "Étant donnés" analysiert Technik, Mechanismen und Herstellung des Dioramas und wurde etwa auch zu einem kritischen Vorbild für die konzeptuelle Fotografie des kanadischen Künstlers Jeff Wall (*1946). Die SCHIRN zeigt die Arbeit "The Giant" (1992), in der Wall einmal mehr die optische und mimetische Illusion des fotografischen Bildes hinterfragt.

Die Künstlichkeit des Dioramas

Bereits in den 1970er-Jahren inspirieren die Dioramen des American Museum of Natural History frühe Fotografien von Robert Gober (*1954) und Hiroshi Sugimoto (*1948). Die Ausstellung stellt eine bisher unveröffentlichte Serie Gobers aus dem Jahr 1976 vor. Die Aufnahmen spielen mit zwei unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen: Einige hinterlassen den Eindruck von in der Natur fotografierten Szenen, andere betonen die Künstlichkeit des Dioramas und lösen den Wirklichkeitseffekt auf. Die Serie "Dioramas" (1976–2016) des japanischen Fotografen Sugimoto setzt sich kritisch mit den Authentizitätsversprechen dokumentarischer Fotografie sowie der Dioramen auseinander. In seinen schwarz-weißen Aufnahmen wirkt der dargestellte Lebensraum des Dioramas verlassen und morbide: Die Tiere und Pflanzen werden zu gespenstischen Bildern ihrer selbst.

Jeff Wall, The Giant, 1992, Privatsammlung, © Jeff Wall
Mark Dion, Paris Streetscape, 2017, Ausstellungsansicht Dioramas, Palais de Tokyo, Courtesy Mark Dion / Galerie in Situ – Fabienne Leclerc, Paris, Foto: Aurélien Mole

Der US-amerikanische Künstler Mark Dion (*1961) hinterfragt in seinen Werken die menschliche Präsentation von Natur und befasst sich mit der Funktion und den Anordnungsprinzipien des Habitatdioramas. Die SCHIRN präsentiert das eigens für die Ausstellung entwickelte Werk "Paris Streetscape" (2017). In einem großformatigen Glasschaukasten zeigt Dion einen Ausschnitt der Pariser Stadtlandschaft. Durch Zivilisationsmüll, Plastikabfälle und Schrott erscheint die Natur vollständig verbannt. Das mit in Städten heimischen Tieren bevölkerte Diorama bricht mit den herkömmlichen idyllischen Darstellungen der Tiere in ihren natürlichen Ökosystemen. Dion aktualisiert das Diorama als Präsentationsform und reichert es mit zeitgenössischen Themen wie Konsumverhalten und Umweltverschmutzung an. Seine Werke sind ein Echo auf die Arbeiten der deutschen Bildhauerin Isa Genzken (*1948), die in der Ausstellung mit "Empire Vampire III, 12" (2004) vertreten ist, und des französischen Künstlers Mathieu Mercier (*1970). Letzterer geht über das Illusionsprinzip des Habitatdioramas hinaus und bevölkert es mit einem lebendigen Axolotlpärchen. Das mitten in den Glasschaukasten gesetzte Aquarium ist von Torf umgeben; Mercier kreiert eine ebenso künstlich wie archaisch wirkende Umgebung für die Tiere und verweist auch auf den Evolutionsschritt, der von diesen Hybridwesen gleichsam verkörpert wird. Seine Arbeit steht im Kontext einer größeren Reflexion über Alltagsgegenstände, ihre Symbolik und ihren Einsatz sowohl im industriellen als auch im künstlerischen Kontext. 

Die Ausstellung wurde organisiert von der Schirn Kunsthalle Frankfurt in Zusammenarbeit mit dem Palais de Tokyo, Paris. Dort wurde sie konzipiert und zuerst gezeigt.

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Mathieu Mercier, Ohne Titel (Axolotl-Paar), 2012, Ausstellungsansicht Centre d’Art contemporain d’Ivry, Courtesy the artist & Mehdi Chouakri, Foto: André Morin/le Crédac