Die Affichisten sind nicht die ersten, die den Zufall für ihre künstlerische Praxis nutzen. Dass man sich in der Großstadt Paris besser verlaufen kann als in einem Hollywoodmusical, zeigen schon Isidore Isou und die Lettristen.

Dass Kinovorstellungen mit Polizeigewalt beendet werden, scheint selbst zu der Zeit drastisch, als sich künstlerische Avantgarden noch als politische Gruppen verstanden. Bei der Erstaufführung von Isidore Isous Film "Traité de bave et d'éternité" beim Filmfestival von Cannes 1951 musste die Polizei mit Wasserschläuchen eingreifen. So lautet zumindest die Legende. Aber wahrscheinlich hat Isou dieses Gerücht selbst gestreut. Es ist aber belegt, dass die Aufführung von Isous Debütfilm in Cannes abgebrochen werden musste, und zwar wegen der Zwischenrufe aus dem Publikum. Der Film wird im Sound eines Manifests erzählt und die Philosophie, die er propagiert, nennt sich Lettrismus. Aber so sehr die Lettristen einen Platz in der Geschichte beanspruchen: Der große Durchbruch bleibt ihnen verwehrt.

Nachdem der junge Ioan Isidor Goldstein gegen Ende des Zweiten Weltkriegs von zionistischen Partisanen von Rumänien nach Paris geschleust wurde, ging er gleich mit einem Koffer voller Manuskripte zum Verleger Gaston Gallimard. Goldstein nennt sich nun Isidor Isou und gründet eine Künstlergruppe im -- an Künstlergruppen nicht gerade armen -- Nachkriegsparis. Mit einigen Freunden zieht er nachts durch das quartier latin und klebt propagandistische Plakate gegen die träge gewordenen Surrealisten. Doch niemand nimmt von ihm Notiz.

Ende der 1940er verfasste Isou einige ästhetische Schriften und stellt 1951 den Film "Traité de bave et d'éternité" fertig. Damit erhebt er den Anspruch, ein Gesamtkunstwerk umzusetzen: Film, Lyrik, Sound. Nach einigen Überredungsversuchen willigt auch die Jury des Filmfestivals in Cannes ein, den Film zu zeigen. Die erste Aufführung muss zwar nach den Protesten des gesetzten Festivalpublikums abgebrochen werden, aber Jean Cocteau lässt es sich nicht nehmen, dem jungen Aufrührer den eilig ins Leben gerufenen Preis für den besten Avantgarde-Film zu verleihen.

Rhythmus der Stadt und Rhythmus des Kinos

Isous Plan für ein neues Kino ist denkbar einfach: Wenn das Kino schon so übersättigt ist mit Bildern und Klischees, kann der Fortschritt nur erzielt werden, indem das alte Material noch einmal verwendet wird. So wie die lettristische Lyrik versucht, den Buchstaben aus seinem Kontext zu lösen und autonom zu machen, soll Isous Film das Bild aus seinem Kontext lösen und wiederverwendbar machen. "Traité de bave et d'éternité" beginnt mit einem lettristischen Lautgedicht und mit der als Warnhinweis getarnten Behauptung, der folgende Film unterscheide sich vollkommen von allen anderen Filmen. Mit dieser Behauptung befolgt Isou natürlich die erste Spielregel der Avantgardekunst: Geschichte -- in diesem Fall Filmgeschichte -- wird gemacht.

Der Protagonist, gespielt von Isou selbst, streift über den Boulevard Saint Germain. Ein Kollaborateur Isous doziert aus dem Off und fordert ein Kino, in dem Sprache und Bild autonom voneinander sind. Er verspricht, im zweiten Teil des Films seine Prinzipien umzusetzen. Mit gefundenem Filmmaterial erzählt der Film eine Liebesgeschichte in Paris. Im selben Jahr kommt "An American in Paris" in die Kinos. Der Film zeigt Gene Kelly in Technicolor, wie er durch ein Paris aus Pappmaché tanzt, das ganz den Bedürfnissen des Hollyoodfilms angepasst ist. Bei Isou ist es genau umgekehrt, denn die eigentliche Hauptrolle im "Traité" spielt die Großstadt.

Anstatt zu tanzen, streift Isou durch Saint Germain des Près, posiert wie ein existenzialistischer Elvis an Straßenecken und in Hauseingängen, weicht Passanten aus oder schaut in Schaufenster. Immer wieder zeigt der Film Einstellungen von Schuhen und vorbeifahrenden Autos, und immer wieder wirft jemand mit stereotyp-lässiger Handbewegung eine Zigarettenkippe weg. Wie ein Soundtrack ist der harte Rhythmus eines lettristischen Lautgedichts zu hören. Wenn Isou nicht im Bild ist, wechseln sich Einstellungen von ausgebombten Grundstücken und Innenhöfen ab. Nicht allein die Lautpoesie gibt dem Film Rhythmus, sondern auch die Stadt selbst. Während Gene Kelly ganz im bunten Technicolor-Paris zuhause ist, sind die Protagonisten in Isous Film allein und bleiben Fremde.

Das anarchische Vergnügen des Plakateabreißens

Vom Lettrismus ist wenig geblieben, aber die Verfahren der Gruppe sind alles andere als wirkungslos. Schon lange bevor Isou seinen Film gemacht hat, war das Umherstreifen in der Stadt wichtig für die noch junge Gruppe der Lettristen, nämlich als sie im quartier latin nachts Plakate an die Hauswände klebten. Die Situationisten erheben später Orientierungsverlust zur Strategie gegen die Langeweile und die Zumutungen der modernen Großstadt. Die Affichisten suchen sich nachts umherirrend ihr Material auf den Straßen. Auch François Dufrêne, der in den 1940ern schon bei den Lettristen mitwirkte, verlor nicht das anarchische Vergnügen am Plakateabreißen. Und auch wenn er ein anderes Medium wählt, teilt er doch eine Maxime mit seinen Vorgängern, nämlich, "dass Kunst die Herstellung noch nicht hergestellter Beziehungen zwischen konkreten Elementen ist."

Mehr über die Affichisten erfahren im Film zur Ausstellung "Poesie der Großstadt"