Der Italiener Amedeo Modigliani zog jung nach Montmartre, wo er dank seines akzentfreien Französisch schnell in Künstlerkreisen Anschluss fand. Er war arm, kompromisslos und trinkfest – vor allem aber wurde er für seinen präzisen Strich bewundert.

Am 12. Juli 1884 kommt Amedeo Clemente Modigliani als viertes Kind der sephardischen Juden Flaminio Modigliani und Eugenia Garsin in Livorno zur Welt. Früh kränklich, hypersensibel und hochgebildet, war Modigliani der Ansicht, als Künstler außerhalb der bürgerlichen Moral zu stehen; er lebte nur für seine Kunst. Zwar war er mit 1,60 Metern Körperhöhe nur von kleiner Statur, dafür aber außerordentlich gutaussehend, und übte mit seiner ausgesucht-aristokratischen Art eine große Anziehungskraft auf die Damenwelt aus. Unter ihnen die russische Dichterin Anna Akhmatova, die südafrikanische Feministin Beatrice Hastings, die Franko-Kanadierin Simone Thirioux und die Pariserin Jeanne Hébuterne.

Beeindruckt von den Arbeiten Toulouse-Lautrecs zieht er 1906 nach Paris. Die Fauvisten und Paul Cézanne feiern dort gerade das Primat der reinen Farbe, der Kubismus ist kurz davor erfunden zu werden. Modigliani sieht ihn als Irrweg und Spielerei, er möchte die Form nicht auflösen sondern bewahren. Folgerichtig wird er sich später weigern, das Futuristische Manifest zu unterzeichnen.

Am 24. Januar 1920 stirbt Amedeo Modigliani mit nur 35 Jahren an der Tuberkulose. Am folgenden Morgen begibt sich Jeanne Hébuterne, die Freundin des Künstlers, ins Krankenhaus um ihrem Geliebten den letzten Gruß zu geben. Dann kehrt sie zurück in die elterliche Wohnung, wo sie sich in der Nacht vom 25. Januar 1920 aus dem Fenster im fünften Stock stürzt und den Tod findet. In ihrem Bauch trug sie ihr zweites Kind. Eine Legende ist geboren und mit ihr der Mythos.

Nach seiner Ankunft in Paris, vor allem aber im Jahre 1908, besuchte Modigliani regelmäßig Kunstschulen wie die Akademien Colarossi und Ranson am Montmartre, um sich im Aktzeichnen zu üben. Die Alten Meister hatte er in Italien oft genug kopiert, dort hatte er in Florenz und später in Venedig die Kunstakademien besucht. In den von Modigliani frequentierten Kunstschulen wechselten die Modelle nach etwa fünfzehn Minuten die Pose. Dort entstand vermutlich der „Stehende, weibliche Akt", der rasch, fest und mit meisterhaftem Strich auf Papier gebracht wurde. Die Zeichnung ist von größter Präzision und Reduktion. Die elegante Linie feiert den weiblichen Körper ohne jede Spur von Vulgarität.

Als alter Mann erinnerte sich der Maler und Autor Maurice de Vlaminck, wie „diese intelligenten Hände in einem einzigen Strich, ohne Zögern, eine Zeichnung skizzierten." Etwas später wird der Bildhauer und Maler Alberto Giacometti den Italiener als unübertrefflichen Zeichner und als einen der größten Porträtisten aller Zeiten bezeichnen. Fast das gesamte Werk Modiglianis hat den Menschen zum Thema.

Modigliani war wohl der belesenste unter den Künstlern des Montmartre, rezitierte aus dem Gedächtnis Dante, Petrarca, Ariost und Leopardi, war aber auch mit den Zeitgenössischen Lyrikern wohlvertraut. Vielleicht hat er neben Spinoza etwas zu viel Nietzsche und Gabriele D'Annunzio, sicher zu innig Lautréamont gelesen. Er nennt sich Modi, was wie „maudit", der Gottverdammte, der Verfluchte, klingt. Gelegentlich bekam er heftige Wutanfälle, die dem Alkohol und den Drogen zugeschrieben wurden, möglicherweise aber auch mit dem Unverständnis der Zeitgenossen für sein Werk zusammenhängen. Im Gegensatz zu Picasso, der, als er nach Paris kam, keinen korrekten Satz herausbrachte, überraschte Modi mit seinem akzentfreien Französisch und machte sich zahlreiche Freunde, unter ihnen Max Jacob und Maurice Utrillo, mit dem er bis zur Besinnungslosigkeit Absinth trank um den Hunger zu vergessen, Chaim Soutine, Constantin Brancusi, mit dem er Bordsteinkanten stahl um aus ihnen Skulpturen zu schaffen, Diego Rivera, Jean Cocteau und Guillaume Apollinaire.

Modigliani war ein wahrer Bohémien und lebte wie außerhalb seiner Zeit, ohne elektrisches Licht, ohne Schreibmaschine. Er war so arm, dass er bisweilen in der Heimlichkeit der Nacht umziehen musste, weil er wieder einmal den Mietzins nicht begleichen konnte. Er hungerte und fror. Noch in bitterster Armut lebte er einen grenzenlosen Elitismus und lehnte es strikt ab, von etwas anderem als von seiner Kunst zu leben. Selbst eine Mitarbeit als Zeichner für die anarchistische Illustrierte „L’Assiette au beurre“, die zwischen 1901 und 1912 erschien und ihm ein passables Gehalt anbot, lehnte Modi ab.

Im Juli 1909 erlaubt ihm das Geld, das er von seiner Tante Laura erhalten hat, nach Italien zu reisen. Er möchte sich der Skulptur zuwenden und arbeitet in den Steinbrüchen von Carrara. Doch lange kann der lungenkranke, tuberkulöse Künstler den Strapazen nicht standhalten. Im September kehrt er nach Paris zurück, im Gepäck „Den Bettler von Livorno“, den er dem Arzt Paul Alexandre verkauft, und „Die Bettlerin“, die er Jean Alexandre, vermutlich im Gegenzug für eine Zahnbehandlung, überlässt.

„Die Bettlerin" ruft in ihrer Anmut Cranach und Botticelli in Erinnerung. Linie und Farbpalette sind noch Cézanne verhaftet, die blinden Augen verweisen auf afrikanische Masken. Modigliani, der nun am Montparnasse wohnt, wird einen ganz eigenen Stil entwickeln, ohne einer Schule zugerechnet werden zu können. Aufgrund seiner labilen Gesundheit wird er ausgemustert und ist während des Ersten Weltkrieges einer der wenigen Männer seines Alters in Paris. Der Krieg findet kein Echo in seinem Werk, das ganz der Schönheit gewidmet ist. 1917 lernt Modigliani die neunzehnjährige Kunststudentin Jeanne Hébuterne kennen, die gegen den Willen ihrer Eltern zu ihm zieht. Im gleichen Jahr findet in der Galerie von Berthe Weill die erste Einzelausstellung Modiglianis statt, die in einem Skandal endet. Die Ordnungshüter sehen in den Aktbildern eine Provokation, ein Attentat auf die guten Sitten, und schließen die Ausstellung. Kein einziges Gemälde sollte verkauft werden.

Während seines kurzen, bewegten Lebens hatte Modigliani weder am Kunstmarkt noch bei der Kritik Erfolg. Er stirbt 1920 und Jeanne Hébuterne folgt ihm auf dem Fuße. Ihre gemeinsame Tochter Jeanne wird von Modiglianis Schwester Margherita adoptiert. 1930 wird Giuseppe Emanuele Modigliani, Bruder des Künstlers und sozialistischer Politiker, der nach dem Aufstieg Mussolinis im Pariser Exil lebte, mit Erlaubnis der Hébuternes die Überreste der beiden Liebenden in einem Grab am Père-Lachaise zusammenführen. Was folgt ist Legende.