Courbets „Klassische Walpurgisnacht“ galt als verschollen. Konservatoren des Musée Fabre in Montpellier haben das Gemälde wiederentdeckt – per Röntgenuntersuchung.

Die Ergebnisse der Arbeit des Forschungs- und Restaurierungszentrums der französischen Museen (C2RMF) an Courbets „Die Badenden" übertrafen alle Erwartungen: Die Röntgenuntersuchung lieferte ein ungeahnt komplexes Bild. Die gegenwärtige Ausstellung bietet Gelegenheit, die ursprüngliche Analyse des C2RMF in Augenschein zu nehmen. Das Röntgen lässt mehrere Elemente erkennen, die sich mehr oder weniger leicht identifizieren lassen.

Im oberen Teil des Bilds sieht man eine Figur, die einen Umhang trägt und an das „Selbstbildnis am Abgrund (Verrückt vor Angst)" erinnert, das sich heute in Oslo befindet. Der untere Teil der Komposition zeigt einen mit einem Schleier verhüllten Schädel. Die Mitte nimmt eine aufrechte, etwas verrenkte weibliche Figur in Dreiviertelansicht ein, deren Brüste entblößt sind. Im rechten Teil der Komposition ist ein ähnlich großer Umriss auszunehmen; deutlich tritt ein erhobener Arm hervor. Der zur weiblichen Figur hin ausgestreckte Arm lässt an eine Verfolgungsszene denken.

In Courbets frühen Werken ist der Tod allgegenwärtig. Das Gesicht der im Röntgen sichtbaren weiblichen Figur ähnelt einer spiegelbildlichen Darstellung von Courbets „Ophelia oder Die Verlobte des Todes". Die Bildtitel des Künstlers verweisen nicht nur auf dessen Begeisterung für den Totentanz, sondern auch auf eine seiner Charaktereigenschaften: seinen Sinn für Ironie oder gar Komisches im Zusammenhang mit einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod.

Gustave Courbet, „Die Badenden“, 1853.

Alle diese Elemente finden sich in der Untermalung der „Badenden": Man muss nur das verhüllte Skelett als Teil der Verfolgungsjagd verstehen. Wenn wir den Tod mit einer jungen Frau und einem ihr nachjagenden Mann in Verbindung bringen, ergibt sich ein Bezug, der einer bei Théophile Silvestre, dem ersten Biografen Courbets, zu findenden Beschreibung sehr nahekommt: „Ich beschloss, die Frau sterben zu lassen, die meine Fantasie aufwühlte; [...] gnadenlos opferte ich sie in einem großen allegorischen Bild: „Der Mann, den der Tod von der Liebe befreit". Mit schallendem Gelächter schafft Gevatter Tod eine Frau fort, die der sie innig liebende Mann ihm zu entreißen versucht. Bald darauf erschien mir die Idee zu diesem Bild falsch, und ich übermalte es."

Wiederauftauchen des Werks

Diese Hypothese ist allerdings fragwürdig, beruht sie doch allein auf der durch Silvestre überlieferten Aussage des Künstlers. Es gibt mindestens ein weiteres großformatiges Frühwerk Courbets, das der auf der Röntgenaufnahme sichtbaren Szene vergleichbar ist: das Bild „Klassische Walpurgisnacht", das im Salon von 1848 ausgestellt wurde. Das Gemälde wurde von Champfleury in bemerkenswert weitblickender Weise besprochen: „Dieses Jahr ist im Salon ein großes, starkes Werk mit dem Titel „Klassische Walpurgisnacht" unbeachtet geblieben, das dem faustischen Grundgedanken entsprungen ist. Ich sage hier, man möge sich seiner erinnern! Dieser Mann wird sich als großer Maler erweisen. [...] Sein Name ist Courbet." Champfleury beschrieb das Bild nicht, doch glücklicherweise bezieht sich Courbet in den Tagen seiner Gefangenschaft in Sainte-Pélagie auf das Werk: „In dieser Zeit malte ich die berühmte Frau der „Walpurgisnacht", die von einem jungen Philosophen verfolgt und von einem Dschinn, einem Kobold, weggeführt wird -- [dem Bild] trauere ich immer noch nach."

Röntgenaufnahme von Gustave Courbet, „Die Badenden“.

In zwei weiteren wichtigen Beschreibungen wird der Titel des Gemäldes nicht genannt. Der Marquis de Chennevières bemerkt in seinen „Lettres sur l'art français en 1850": „Da gab es zwei lebensgroße Figuren, einen ziemlich hässlichen Jüngling, bekleidet mit einem schwarzen Gehrock, wie du und ich einen tragen, der rannte an einem Wald vorbei einem völlig nackten Mädchen hinterher, einer dickbäuchigen Gestalt mit dürren Beinchen, einem Modell achter Wahl, das, wie ich meine, die Sinnestäuschung versinnbildlichte."

Wann wurde das Gemälde übermalt?

Das zweite Zeugnis datiert etwa vierzig Jahre später und stammt von Jean Gigoux, einem Maler aus der Franche-Comté, dessen Bericht umfassend, aber etwas übertrieben ausgefallen ist: „Courbet begann ein großes Bild zu malen. [...] Auf der riesigen Leinwand sah ich eine Nymphe, die ein mittelmäßiger Apoll verfolgte, die Arme ausgestreckt, in sportlichem Laufschritt, zu allem Überfluss in einem Schwalbenschwanz -- einem Frack --, dessen flatternde Rockschöße die Bewegung der Beine begleiteten, und einen breiten Filzhut überm Ohr, wie er damals in Mode war!"

Silvestre schließlich legt eine andere Deutung nahe: „Er ließ sich noch ein schlechtes Bild einfallen, das seine persönliche Antipathie gegen einfallslose und naturverachtende Gelehrte ausdrückt. Es ist eine Art Satire auf Goethes Faust, den er gerade gelesen hatte. Eine Art Alchimist heftet sich hechelnd an die Fersen einer davoneilenden jungen Frau, der Personifizierung der Natur, die wie eine Nymphe, der ein Satyr nachsteigt, einen Waldrand entlang flüchtet. Die krampfende Hand des Gelehrten streckt sich vergeblich nach ihr aus." Man fragt sich, ob das Gemälde damals noch existierte oder nicht schon durch eine Übermalung zerstört worden war. 

Gustave Courbet, „Die Ringer“, um 1853.

Das sollte das der „Klassischen Walpurgisnacht" bestimmte Schicksal sein, wie der Maler selbst im Katalog zu einer Einzelausstellung erklärt, die er 1867 veranstaltete: „Unter den „Ringern" ließe sich", schreibt er, „wenn man ein wenig kratzte, die „Walpurgisnacht" wiederfinden, eine allegorische Zusammenfassung von Goethes Faust -- einer der ersten Versuche des Autors." Folgen wir Courbet, wie das alle tun, die sich mit dem Thema beschäftigt haben, müssen wir zu dem Schluss kommen, dass „Die Ringer", die der Künstler am 15. Oktober 1852 fertigstellte, damals Silvestre den Blick auf die „Klassische Walpurgisnacht" verwehrten wie das heute uns. Doch in einem Buch, das bei seiner Veröffentlichung 2001 unbeachtet blieb, schreibt Mária Illyés, eine Kuratorin des Budapester Museums der schönen Künste, in dessen Beständen sich das Gemälde befindet: „Die vor Kurzem durchgeführten Röntgenuntersuchungen an dem Gemälde haben keine Spuren der Komposition von 1848 ergeben." Courbet dürfte entgegen seiner Aussage eine neue Leinwand verwendet haben.

Wir wissen durch einen Brief des Künstlers an seine Eltern, dass er nach Abschluss der Arbeit an den „Ringern" nicht mehr über die notwendigen Mittel für „Die Badenden" verfügte. Vielleicht verwendete er deshalb eine Leinwand wieder, die vier Jahre lang in seinem Atelier gestanden hatte: die „Klassische Walpurgisnacht". Kann man Courbet wirklich einen Vorwurf daraus machen, dass er nach zwanzig Jahren „Die Badenden" und „Die Ringer" verwechselte, die beide gleich groß sind, aus demselben Antrieb heraus entstanden und im selben Salon ausgestellt wurden?

Gustave Courbet, Röntgenaufnahme von „Die Ringer“, um 1853.

Das Werk heißt „Klassische Walpurgisnacht", nicht bloß „Walpurgisnacht", und bezieht sich damit eindeutig auf den weniger bekannten zweiten Teil von Goethes Faust. Der wie eine griechische Tragödie aufgebaute zweite Teil versetzt den Helden wider Erwarten in die Antike, wo er sich nach der schönen Helena von Troja auf die Suche macht. Der Dichter verlegt den Schauplatz des Hexensabbats vom Brocken an die griechische Küste. Vor diesem Hintergrund werden die Formen, welche die Röntgenaufnahme unter den Badenden zeigt, klarer: Der ausgestreckte Arm rechts und das sich bewegende Bein unten links gehören niemand anderem als Faust, dem romantischen Helden, und die große, etwas schwerfällige weibliche Figur in der Bildmitte kann nur „die berühmte Frau der ‚Walpurgisnacht'" sein, Helena, die Schönheit der Antike, deren rechten Arm ein Reif ziert, wie er für die Göttinnen der klassischen Tradition typisch ist. 

Es bietet sich aber noch eine dritte Hypothese für die ursprüngliche Komposition unter den Badenden an: Durch die Korrespondenz Courbets wissen wir, dass der Künstler erst Ende September von einer Studienreise nach Belgien zurückkehrte. Im Dezember schrieb er seinen Eltern: „Ich habe erst vor zehn Tagen mit der Arbeit an meinem Gemälde begonnen, vorher war kein Modell zu finden. Ich hoffe trotzdem, rechtzeitig fertig zu werden." Für jemanden, dem es darum ging, mit einem großen Gemälde Eindruck zu machen, war Zeit ein wesentlicher Faktor.

Was wurde aus „Der Mann, den der Tod von der Liebe befreit"?

Daher wollen wir eine letzte Vermutung vortragen: Der Maler stößt in seinem Atelier auf ein unvollendet gebliebenes großformatiges Bild: „Der Mann, den der Tod von der Liebe befreit". Das Interesse an Faust II, das die jüngste Ausgabe des Werks mit den Illustrationen Tony Johannots in ihm geweckt hat, lässt in ihm den Gedanken aufkommen, das alte und das geplante Bild zu verschmelzen. Er hat gerade noch genügend Zeit, ein Modell zu finden, um die weibliche Figur zu überarbeiten, damit er endlich im Salon ein bahnbrechendes großformatiges Bild präsentieren kann, von dem er seit 1845 in seinen Briefen spricht. Einige Wochen später ist das Bild endlich fertig: Aus „Der Mann, den der Tod von der Liebe befreit" ist die „Klassische Walpurgisnacht" geworden.

Vorbehaltlich neuer historischer oder anderer wissenschaftlicher Erkenntnisse bietet diese dritte Hypothese die Möglichkeit, nicht nur ein Bild, sondern zwei Bilder -- ein vollendetes und ein unvollendetes -- wiederzuentdecken und den Schaffensprozess des Künstlers, wie er sich im Verborgenen seines Werkstattateliers vollzog, im Hinblick auf Material und Konzeption in allen Einzelheiten zu rekonstruieren.

Die Autoren Sylvain Amic und Florence Hudowicz arbeiten als Konservatoren am Musée Fabre in Montpellier. Den vollständigen Essay lesen Sie im Katalog zu „Courbet. Ein Traum von der Moderne", hrsg. von Klaus Herding und Max Hollein, Hatje Cantz, Ostfildern, 2010. 34,80 €