Kein Ausdruck des Leidens: Die späten Selbstporträts der finnischen Künstlerin Helene Schjerfbeck sind radikal reduziert und setzen dem Verfall eine massive Kraft entgegen

Die Wangen eingefallen, die Schädelform deutlich sichtbar, die Augen nur noch dunkle Schatten - der Titel "Eine alte Malerin", wie Helene Schjerfbeck eines ihrer 1945 entstandenen Selbstbildnisse nennt, könnte nicht treffender gewählt sein. Radikal reduziert Helene Schjerfbeck die eigenen Züge, bis sie nur noch vage Umrisse eines einst detailreich ausgestalteten Porträts sind. Der nahende Tod scheint Künstlerin und Betrachter buchstäblich vor Augen. Und trotzdem: Die vielfältigen, sorgfältig eingesetzten Techniken, das Aufspachteln von Farbe hier, das grobe Durchschimmern der Leinwand dort, der bis zum letzten Selbstporträt durchscheinende, stolze Blick der Malerin setzen dem eigenen Verfall eine massive Kraft entgegen. Es ist nicht das Alterswerk einer müde gewordenen Malerin.

Vincent van Gogh: Das Ohr so berühmt wie sein Werk

Kunst und Leid, persönliches Schicksal und das öffentlich zur Schau gestellte Werk waren seit dem Moment, da der Künstler hinter seinem Schaffen hervorstieg und vom Auftragsarbeiter zum Autonomen wurde, untrennbar miteinander verbunden. Dem ganz persönlichen Leiden wurde und wird ein hoher Wert zugemessen, ganz so, als ob die menschliche Tragödie noch der letzte legitime Ausdruck einer wie auch immer gearteten Authentizität sei -- und in bürgerlichen Zeiten vielleicht sogar als eine Art Rechtfertigung dienen konnte, die den unsteten Ausnahme-Lebenswandel der Kunstschaffenden als gesellschaftlich legitim erscheinen ließ.

Die psychische Verfasstheit Vincent van Goghs genießt einen ähnlich hohen Bekanntheitsgrad wie seine Bilder, die selbst längst den Weg auf die Halstücher und Kalenderdrucke gefunden haben und zum kollektiven Massengedächtnis gehören. Schon Schulkinder können den Vorfall vom abgeschnittenen Ohr rezipieren, der sich wie eine moderne Schauergeschichte von Kunstlehrer zu Kunstschüler weitererzählen lässt. Und während Van Gogh weitgehend unschuldig sein dürfte an der Berühmtheit seiner seelischen Nöte, gibt es etliche Beispiele aus Kunst und Popkultur, in der die Aufhebung der Trennung zwischen Privatleben und Werk auch von Künstlerseite zumindest hingenommen wird: Der New Yorker Fotokünstler Dash Snow verquickte Privatleben und Kunst derart, dass seine Heroinsucht, der exzessive Lebenswandel selbst immer wieder explizit zum Sujet seiner Kunst und somit gewollt oder ungewollt wiederum zum Verkaufsargument für diese avancierten. Und auch die Bilder von Frida Kahlo dürften zumindest einen Teil ihres Ruhmes dem Umstand verdanken, dass die Künstlerin im Alter von 22 Jahren einen tragischen Busunfall erlitt, unter dessen Folgen sie ein Leben lang litt -- ein Szenario, das sie in ihren Bildern selbst immer wieder thematisierte.

Dem Verfall abgetrotzt

Sich nicht völlig von der Psychologisierung der eigenen Person vereinnahmen zu lassen, scheint eine schwierige Aufgabe. Während einige Künstler die Verknüpfung aus Leid und Werk sogar emphatisch bejahen und den Mythos um die eigene Person selbst noch befeuern, gibt es andere Strategien: Radikale Abschirmung des Privatlebens, wie es Pop-und Hollywoodstars, aber auch zum Beispiel der Schriftsteller J.D. Salinger vorlebten. Oder der Versuch, in der Kunst selbst eine Distanz herzustellen -- denn in ihr liegt ja gerade das Potential, den Einzelnen von seinem kärglichen irdischen Dasein zu emanzipieren, als Künstler wie auch als Publikum eine Gegenwelt zu schaffen respektive sich auf diese überhaupt erst einzulassen.

Helene Schjerfbecks "Strategie" scheint eher hier zu liegen: Ihre späten Selbstbildnisse beschönigen nichts, spiegeln aber zugleich einen intensiven Malprozess wider. Insofern ähneln sie den späten Meditationen von Alexej Jawlensky, die in einer Art abstrahiertem Selbstporträt die müde gewordenen Gesichtszüge des Malers in zahlreichen Variationen, stets mit dickem Pinselstrich und aus dem Dunkel heraus durchscheinend bunten Farben zeigen. Das Altern: Es bleibt Leiden, körperlicher Verfall, physisches und psychisches Gebrechen. Gleichsam ist das Dargestellte kein unmittelbarer Ausdruck des individuellen Leides: Der Malprozess schafft eine neue Ebene, auf der das unmittelbare persönliche Empfinden in einen neuen Zustand transformiert wird -- und somit gewissermaßen autonom vom unabwendbaren Schicksal. Zumindest das kann man der unaufhaltsam fortschreitenden Materie vielleicht noch abtrotzen.