Das menschliche Gesicht übernimmt viele wichtige Funktionen. Ein Kontrollverlust hat tiefreichende Konsequenzen.

„Ich weiß, du erkennst mich an meinem Gesicht, du kennst mich als Gesicht und hast mich nie anders gekannt. Also konntest du gar nicht auf den Gedanken kommen, daß ich nicht mein Gesicht bin.“

Milan Kundera, Die Unsterblichkeit (1)


Das bewegliche, expressive Gesicht, in seiner Komplexität eine rein menschliche Gabe, entwickelte sich als einmaliger Identifikator von Individuen und als eine sichtbare Erscheinung des Erlebens und Ausdrucks von Gefühlszuständen oder Emotionen, die ihrerseits zur Regelung unserer komplexeren und größeren sozialen Gruppen notwendig scheinen. Merleau-Ponty fasste diese in einem Satz zusammen: „Ich lebe im Gesichtsausdruck des anderen und fühle, wie er in meinem lebt.“[2] Das Gesicht hat sich nicht nur im Sinne des Ausdrucksvermögens entwickelt, sondern auch als Mittel zur Kommunikation, zum Austausch, zum Teilen emotionaler Erfahrungen. Durch die Reaktionen der Menschen in unserer Umgebung kalibrieren wir unser soziales Verhalten in einer Gruppe. Während die Sprache unsere gesamte kognitive Komplexität verändert, ermöglicht uns das Gesicht eine Komplexität von Emotion und sozialer Interaktion. Oder, in den Worten von Charles Bell: „Der Gedanke ist für die Sprache das, was das Gefühl für den Gesichtsausdruck ist.“[3] Das Gesicht ist in unserer Kultur und für unsere Erlebenswelt derart bedeutsam, dass wir daran erinnert werden müssen, welch außergewöhnliche Gabe es darstellt.

Diese Erkenntnis wird durch die Erfahrungen von Menschen unterstützt, die ohne veränderlichen Gesichtsausdruck leben müssen. Bevor wir uns diesen zuwenden, stellt sich jedoch zuerst die Frage, was es bedeutet, Gesichtsbilder zu verlieren?

Als der in Birmingham lehrende Professor John Hull erfuhr, dass er sein Augenlicht völlig verlieren würde, begann der damals vierzigjährige Familienvater sich bewusst einzuprägen, wie seine Familie, Freunde und Kollegen aussahen, damit er sich nach der Erblindung an diese erinnern konnte. Im Wesentlichen sind wir unserer Gesicht. Obwohl Wittgensteins berühmter Satz anders lautet, „Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele“[4], könnte er damit auch das menschliche Gesicht gemeint haben. Die Erinnerungen blieben bei Hull eine Zeitlang abrufbar, doch nach und nach verblassten die Bilder und damit auch sein Gefühl, seine Frau und Kinder zu kennen. Er verlor auch die Erinnerung daran, wie er selbst aussah und vermerkte dies in seinem Tagebuch: „[…] die grauenhafte Vorstellung, gesichtslos zu sein, das eigene Aussehen zu vergessen, kein Gesicht zu haben. Das Gesicht ist das Spiegelbild des Ichs.“ (11. Januar 1984).[5] Er bekam Depressionen, nicht aufgrund der Erblindung an sich, sondern weil er die Gesichtsbilder seiner Familie und Freunde verlor. Glücklicherweise schärfte sich im Laufe der folgenden Jahre seine Wahrnehmung für emotionale Botschaften in der Stimme und tatsächlich auch für das Selbstgefühl, sodass die Stimme und deren Prosodie Identität und Emotion verkörpern. Allerdings beschrieb er die Trennung zwischen seiner optischen und einer auditiven Vorstellung von anderen Menschen als „eine schwarze Weite des Raumes“ und einen „tiefen, schwarzen Strom der Zeit“.[6]

Menschen, die unter dem sogenannten Möbius-Syndrom leiden – ein seltenes, angeborenes Syndrom –, sind nicht in der Lage, ihre Gesichtsmuskulatur zu bewegen. Mitunter ist es ihnen auch nicht möglich, die Augen zu schließen oder den Mund zu bewegen. Mitunter geht dies mit Blicklähmungen, einer Beeinträchtigung der Zungenbeweglichkeit, Schluckbeschwerden und weiteren Einschränkungen einher. Anfänglich konzentrieren sich die Behandlungen auf die Nahrungsaufnahme – sie können nicht saugen – und Augenbeweglichkeit, später benötigen sie meist auch eine Sprechtherapie, Mundpflege und weitere Lernhilfen.

Der Großteil der Menschen mit Möbius-Syndrom entwickelt im Erwachsenenalter eine Widerstandsfähigkeit und eine Freude am Leben. Allerdings hat die Unfähigkeit zur Gesichtsmimik tief reichende Konsequenzen, die Einblicke in das liefern, was das Gesicht normalerweise alles tut, ohne dass wir uns dessen bewusst werden. Dazu die Kindheitserinnerungen einer Frau mit Möbius-Syndrom namens Celia:

„Ich ging nicht zum Ballett oder Reiten, bei mir waren es Krankenhäuser und Operationen. Ich ging zum Augenarzt und zum „Fußarzt“, zur Sprechtherapie und zum „Gesichtsarzt“. Meine Einschränkungen waren Teil meines Lebens. Ich habe mich nie als Person empfunden, ich dachte, ich wäre eine Sammlung aus Einzelteilen. Und all diese verschiedenen Ärzte mussten sich um die verschiedenen Teile kümmern. „Celia“ existierte nicht, das war der Name, dem die anderen einer Sammlung von Teilen gaben.“[7]

Sie berichtete weiter:

„Ich konnte keine Emotionen ausdrücken. Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt Emotionen im Sinne eines definierten Begriffes empfand. An meinen Geburtstagsfeiern war ich nicht aufgeregt. Ich glaube nicht, dass ich als Kind glücklich war oder überhaupt eine Vorstellung von Glücklichsein besaß. Der Schmerz machte mich traurig [und] manchmal weinte ich auch, das kam dann aber eher einer verzögerten Reaktion gleich.“

Ein Mann in den Fünfzigern mit Möbius-Syndrom erinnerte sich an Folgendes:

„[Als ich meine Frau kennenlernte], habe ich mich gefragt, sage ich mir eigentlich, daß ich sie liebe, oder fühle ich es? Am Anfang hab ich's mir wohl nur gesagt. Mir ist erst nach einiger Zeit klar geworden, daß ich diese Liebe wirklich empfand. […] Ich glaube, ich sitze manchmal im Bewusstsein oder im Schädel fest. Ich denke mich eher glücklich oder denke, ich bin traurig, aber ich fühle mich nicht glücklich oder traurig.“[8]

Ohne ein bewegliches, expressives Gesicht und die Fähigkeit, Emotionen auszudrücken und zu teilen, kann bei einigen Menschen das Empfinden von Emotionen selbst vermindert sein. Eine Voraussetzung für das Erfahren ist, dass wir uns mit dem Körper und mit dem Gesicht ausdrücken können. Zwei Frauen, die im Kindesalter ähnliche Einschränkungen besaßen, berichten von dem wunderbaren Erlebnis, als junge Erwachsene die Fähigkeit erlernt zu haben, Emotionen aufzunehmen und zu verkörperlichen – zu vergesichtigen: Celia wurde Englischlehrerin in Spanien und lernte – in einer stark von Gesten bestimmten Kultur – sich mittels Prosodie und Körpergesten auszudrücken. Erstmals fühlte sie die Emotionen, die sie ausdrückte und verkörperte, tatsächlich in sich selbst. Die andere Frau unterrichtete in ihren Zwanzigern in einer Musikschule und beschrieb, wie sie während Proben für Opernvorstellungen erstmals die von der Musik ausgelösten Emotionen und die Emotionen in der Musik in sich selbst fühlte.[9] Man ist beinahe versucht, die Frage zu stellen, auf welche Weise wir emotionales Erleben in Bewegungen des Körpers und des Gesichts übertragen. Wittgenstein war der Ansicht, dass wir diese nicht voneinander trennen sollten: 

„‚Man sieht Gemütsbewegungen.‘ – Im Gegensatz wozu? – Man sieht nicht die Gesichtsverziehungen und schließt nun, er fühle Freude, Trauer, Langeweile. Man beschreibt sein Gesicht unmittelbar als traurig, glückstrahlend, gelangweilt, auch wenn man nicht im Stande ist, sonst irgend eine Beschreibung der Gesichtszüge zu geben. – Die Trauer ist im Gesicht personifiziert, möchte man sagen. Dies ist dem, was wir ‚Gemütsbewegung‘ nennen, wesentlich.“[10]

Treffender wäre wohl die Frage, wie Menschen mit Möbius-Syndrom die tief sitzenden Beziehungen zwischen Gesicht, Emotion und Ich durch andere Kanäle, durch Gesten, Sprache und Prosodie ersetzen.

Obwohl wir die Interaktionen zwischen Menschen betont haben, gibt es einen Bereich, in dem die Information nur in eine Richtung fließt, die Schöne Kunst: Das Modell wird vom Künstler porträtiert und der Beobachter interpretiert das Ergebnis – für die meisten Menschen ist das sicherlich unproblematisch. Bei der Arbeit an einem Buch über das Möbius-Syndrom bat ich meine Ko-Autorin Henrietta Spalding, die selbst mit diesem Syndrom lebt, während einer Vorlesung für Medizinstudenten für ein Porträt Modell zu sitzen, einmal am Morgen und einmal am Nachmittag. Die Anwesenden waren der Ansicht, sie würde auf dem ersten Porträt am Morgen nervöser aussehen, obwohl ihr – unbewegliches – Gesicht keinerlei Gefühlsregungen widerspiegelte. Henrietta war darüber verärgert.

„Das Auditorium konnte gar keine Emotionen oder körperlichen Regungen sehen. Das Porträt war allein der Interpretation des Künstlers und der Wahrnehmung der Studenten ausgesetzt. Wie hätten diese zutreffen können? Für einen Menschen mit Möbius ist es extrem wichtig, sein Ich so präzise wie möglich zu kommunizieren. Es ist beängstigend, einer Interpretation [meines Gesichts] mit so vielen Möglichkeiten zur falschen Analyse ausgesetzt sein. Ich kann nicht mein bestes Gesicht aufsetzen. Ich kann das nicht kontrollieren. Jemand anders kann vielleicht sein schönstes oder ein sexy Gesicht aufsetzen. Ich kann das nicht. In der [sprachlichen] Kommunikation kann ich ein Gespräch kontrollieren, ich kann aber nichts in dem Porträt oder durch mein Gesicht kontrollieren.“[11]

Sie musste sich mit der Erkenntnis abfinden, dass Menschen ihr ausdruckloses Gesicht interpretierten. Denn wir tun dies nun einmal, wir sind dieses Gesicht; werden durch unser eigenes Gesicht definiert und blicken in die Gesichter von anderen. Das ist so tief in uns verankert, dass wir, um das zu bemerken, manchmal die Unterstützung derjenigen benötigen, die ohne unsere ausdrucksfähigen Gesichter leben – ob sie nun blind sind oder unter dem Möbius-Syndrom leiden.

Über den Autor:
Jonathan Cole ist Doktor der Medizin, Angehöriger des britischen Ärzteverbands Royal College of Physicians, Berater für Klinische Neurophysiologie am Poole Hospital, UK, und Professor der Bournemouth University, UK. Sein neues Buch, "Losing Touch", erscheint im Juli 2016 bei Oxford University Press.

Deutsche Übersetzung: Bernd Weiß
Illustration: Jan Buchczik

Anmerkungen:
(1) Milan Kundera, Die Unsterblichkeit, aus dem Tschech. von Susanna Roth, München u. Wien 1990, S. 47
(2) Maurice Merleau-Ponty, Le primat de la perception et ses conséquences philosophiques, Vortrag vor der Société française de Philosophie, 26. November 1946, hier zitiert nach: Jonathan Cole, Über das Gesicht: Naturgeschichte des Gesichts und unnatürliche Geschichte derer, die es verloren haben, aus dem Engl. von Ulrich Blumenbach, München 1999, S. 5
(3) Charles Bell, Essays on the Anatomy and Physiology of Expression, London 1824.
(4) Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen: kritisch-genetische Edition, hrsg. von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 2001, Teil II, IV, S. 1002.
(5) John M. Hull, Touching the Rock; an experience of blindness, New York 1990 [dt. Ausgabe: Im Dunkeln sehen: Erfahrungen eines Blinden, München 1992, S. 71]
(6) Jonathan Cole, About Face, Cambridge (MA) 1998, S. 31, zitiert nach Hull 1992 (wie Anm. 5), [dt. Ausgabe: Über das Gesicht: Naturgeschichte des Gesichts und unnatürliche Geschichte derer, die es verloren haben, aus dem Engl. von Ulrich Blumenbach, München 1999, S. 48]
(7) Jonathan Cole / Henrietta Spalding, The Invisible Smile, Oxford 2008.
(8) Cole 1998, (wie Anm. 6), [dt. Ausgabe S. 170 u. 176].
(9) Cole / Spalding 2008 (wie Anm. 7)
(10) Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie: letzte Schriften über die Philosophie der Psychologie, hrsg. von G. E. M. Anscombe, Frankfurt am Main 1984, II-570, S. 318
(11) Cole / Spalding 2008 (wie Anm. 7)