A.C.M sammelt, sortiert und ordnet Objekte neu. Obsessiv fertigt der französische Outsider-Künstler Reliefs aus seinen Fundstücken. Von Barbara Safarova

Sammeln, sortieren, umarbeiten, ordnen, systematisieren, gliedern – nur wenige Gegenstände entgehen dieser obsessiven Tätigkeit des Zusammentragens und Neuordnens, nicht einmal Zigarettenstummel. Sorgfältig wählt A.C.M all diese kleinen Dinge aus und drückt ihnen sein Fleisch auf: Er bearbeitet ihre Oberfläche und erfindet sie neu, um sie dann in sein Umfeld einzufügen.

Stück für Stück trägt er Fragmente zusammen und sucht ihnen eine Zugehörigkeit, nicht um sie in eine neue Gesamtheit zu integrieren, sondern um Verbindungen zu knüpfen, Netze zu weben und neue, bunt zusammengewürfelte Familien zu bilden.

Readymades und Assemblage-Skulpturen

Im Gegensatz zu den Künstlern der Art brut sind diesem Mann die Welt und die Institutionen der Kunst nicht völlig fremd: A.C.M. beginnt 1968 ein Studium an der Kunsthochschule von Tourcoing, bricht es nach fünf Jahren ab und zerstört seine Werke. 1974 lernt er Corinne kennen, die nicht nur seine Lebensgefährtin und seine Verbindung zur Außenwelt wird, sondern auch und vor allem die Stütze, die er für sein künstlerisches Schaffen braucht. Sein Künstlername unterstreicht die Bedeutung dieser Beziehung für seine Arbeit: A.C.M. – Alfred Corinne Marié, Alfred und Corinne verheiratet.

Wie zahlreiche Künstler der Art brut betrachtet sich auch A.C.M. nicht als professionellen Künstler, sondern eher als Arbeiter. Davon zeugt nicht nur der Begriff, den er für seine Werke verwendet – seine „boulots“, was mit „Jobs“ zu übersetzen wäre –, sondern auch und vor allem seine Vorgehensweise, denn A.C.M. arbeitet (vergleichbar mit Auguste Forestier) in Serien. Sein Atelier ist wie die Werkstatt einer Fabrik organisiert: In bestimmten Produktionsphasen erinnern seine Maschinen an Readymades, dann entwickeln sie sich nach und nach zu Assemblage-Skulpturen.

Das Wort „Serie“ charakterisiert wohl auch den Verlauf seines Schaffens treffend. Die etwa zehn Jahre währende Entstehungszeit der ersten Serie könnte man als Kreide-Phase bezeichnen. A.C.M. bearbeitet in dieser Periode Kreidestücke, bis sie wie Fundstücke anmuten, die durch Zeit und Verschleiß kaputtgegangen sind.

Er befestigt sie auf Dielenbrettern, wo sie Ähnlichkeit mit einer Art Fibel oder einem Verzeichnis oder mit einem Katalog unterschiedlicher Formen annehmen – rätselhafte Zeichen, deren Bedeutung uns verschlossen bleibt, die jedoch unsere Phantasie anregen.

Sammlung von Kuriositäten

Als leidenschaftlicher Sammler scheint sich A.C.M. seinen eigenen Atlas anzulegen. Diese Verzeichnisse reihen sich wie unbewegliche, hängende Bilder in eine Art Montage ein, die durch das immer wieder sichtbar werdende Wirken der Zeit von deren Vergehen zeugt.

Neben dem Bearbeiten von Kreidestücken sammelt A.C.M. auch andere Gegenstände, die er bei seinen langen Spaziergängen über die Felder aufliest: eigenartig geformte Steine, Kleidungsstücke oder Gürtelreste von den Uniformen der Soldaten, die während des Ersten Weltkriegs auf ebendiesen Feldern kämpften. Mit seiner Sammlung stellt er sich wohl ein eigenes Kuriositätenkabinett zusammen, und zwar in derselben Phase, in der er seine Kreidestücke bildhauerisch bearbeitet.

A.C.M. ist also ein Sammler-Künstler. Nach dem Beispiel der Bildhauer vor ihm, die sich Abdrücke zunutze machten, um menschliche Körper oder Gegenstände nachzubilden, ist für A.C.M. das Betrachten der Spuren auf den Gegenständen seiner Sammlung eine Quelle der Inspiration: Die natürlichen Zufälle nähren seine künstlerische Aktivität, aus einer bemerkten Ähnlichkeit wird eine konstruierte. Mit dieser komplexen Vorgehensweise verleiht er seinen Werken „überdeterminierte Kräfte des Imaginären und Symbolischen“

Trümmer der modernen Technologie

Vielleicht ist es kein Zufall, dass A.C.M zunächst ausgerechnet Wecker dazu auserkor, von ihm zerpflückt zu werden. Aber er nimmt sich nicht nur die Mechanismen von Zeitmessern vor, er zerstört auch Schreibmaschinen und löst die Gehäuse heraus, die er in hohen Stapeln in seinem Atelier aufbewahrt.

Danach macht A.C.M. sich daran, aus den Einzelteilen der Geräte Assemblagen herzustellen. Diese neuen Konstruktionen bestehen aus heterogenen Elementen, aus Teilen von Maschinen, die nichts miteinander zu tun haben – Wecker, Transistorradios, Lichtschalter –, Trümmer der modernen Technologie unserer Zivilisation, die er auf die Gehäuse der Schreibmaschinen klebt oder schraubt.

Ihre Oberfläche verwandelt sich, löst sich manchmal auf durch die Säure, die der Künstler in allen Konstruktionsstadien verwendet. Die mit Putz und Feilspänen vermischte Säure bildet einen korrosiven Film, der die Wände vereinheitlicht und zugleich angreift.

Zwischen „der Gewalt am Material und dem Schaffen von Formen“ betreibt A.C.M. Konstruktion und zugleich Dekonstruktion – und das in einer komplexen dialektischen Bewegung, so als wollte er ein Gleichgewicht widersprüchlicher Kräfte in Szene setzen und aufrechterhalten.

Farben des Formengewimmels offenlegen

Bastelei, Tod und Begehren bilden schließlich eine einzige prozesshafte, organische Bewegung, in der Morphogenese und Integument-Zersetzung miteinander verflochten sind. Der Zufall spielt dabei eine große Rolle, denn der Künstler kann die Auswirkungen der Säure auf die Textur nicht voraussehen.

Das korrosive Gemisch soll auch dazu dienen, die Farben des Formengewimmels, mit dem die gesammelten Gehäuse überzogen sind, zu „offenbaren“, wobei A.C.M. formale Ähnlichkeiten als Ausgangspunkt dienen.

A.C.M. gelingt es, einen gewissen Anachronismus sichtbar zu machen, er schafft eine Verbindung zwischen untergegangenen Zivilisationen und der unseren. In diesem Sinne liefern die Assemblagen von A.C.M. vielleicht auch einen Beitrag zur aktuellen Ästhetik-Diskussion, in der manche Kritiker den Verlust des Ursprungs (den Tod der Werte, des Sinns) beklagen und dabei Begriffe wie Dekadenz oder Krise verwenden.

Sind wir durch sein Schaffen mit den Überbleibseln einer längst untergegangenen Zivilisation konfrontiert – nämlich der unsrigen? Und dennoch ist das, was dieses Werk hervorbringt und ihm Leben einhaucht, ein bemerkenswerter künstlerischer Funke, der uns neue Hoffnung gibt!

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