Was bleibt zurück? Wie das Gehen mit der Spur verbunden ist, zeigen Künstler*innen, in deren Praxis die Fortbewegung zu Fuß eine zentrale Rolle spielt.

Ein matschiger Fußabdruck. Eine zerdrückte Kippe. Ein paar verfangene Federn. Die Spuren menschlicher und nicht-menschlicher Anwesenheit begegnen uns fast überall, ohne dass wir sie immer wahrnehmen. Meistens sind wir mit anderen Dingen beschäftigt: Auf dem Weg zur U-Bahn ist mein Blick nach vorne gerichtet, eigentlich halb aufs Handy, und der Kopf schon da, wo ich noch hinfahren werde. Erst wenn das Gehen nicht mehr zielgerichtet ist, kann sich der Blick frei machen für das, was die Spuren um uns herum über unsere Umgebung erzählen könnten. Kein Wunder, dass in der Ausstellung WALK! das Sammeln und Verarbeiten, Produzieren und Auslegen von Spuren eine so wichtige Rolle spielt. Viele Künstler*innen, die das Gehen zu ihrer Praxis machen, beschäftigen sich zugleich damit, welche Formen Spuren annehmen, was wir aus ihnen lernen und mit ihnen anstellen können. Das Gehen und die Spur scheinen auf ganz verschiedene Weisen miteinander verbunden zu sein.

Zwischen Orientierung und Spekulation

Der Historiker Carlo Ginzburg hat einmal die These aufgestellt, dass das Spurenlesen nicht nur eine Kulturtechnik ist, mit der Wissen produziert wird, sondern dass hierin auch ein Ursprung des Erzählens liegt: Eines seiner Beispiele ist das jahrtausendealte Spurenlesen bei der Jagd. Jäger*innen konstruieren aus Spuren eine Sequenz, eine Folge aus kleinen Ereignissen, mit der sie sich das Vergangene erschließen – erst ist das Tier hier vorbeigekommen, dann hat es dort Rast gemacht, usw. Wenn wir Spuren betrachten, dann stellen wir Verknüpfungen her, spekulieren darüber, wie sie entstanden sind und was sie uns mitteilen könnten. Auf diese Art sind sie in weitaus alltäglicheren Situationen als der Jagd für uns Orientierungsmittel: Etwa wenn wir auf Trampelpfaden den Abdrücken folgen, mit denen andere den Weg vor uns markiert haben. Wir ziehen durch sie Rückschlüsse auf bestimmte Gegebenheiten, schätzen Situationen ein und spinnen unsere eigenen Narrative.

Auf die Suche nach Spuren macht sich Yuji Agematsu jeden Tag seit 1997: Er spaziert täglich durch New York und liest dabei Weggeworfenes und Verlorenes auf, kleine Dinge, die Menschen auf den Straßen hinterlassen haben. Die Fundstücke bereitet er anschließend im Studio auf und dokumentiert sie in einem Notizbuch. Dann arrangiert Agematsu die Objekte eines Tages zu filigranen Skulpturen, die er in die durchsichtigen Zellophanhüllen von Zigarettenschachteln steckt. Für die Ausstellungspräsentation werden die Assemblagen schließlich wie die Tage eines Kalenderblatts in einem Raster präsentiert, etwa die Ergebnisse des Juli 2003.

Yuji Agematsu, zip: 07.01.03 … 07.31.03, 2003, © Yuji Agematsu und Miguel Abreu Gallery, New York, Privatsammlung, Paris

Auch wenn Agematsus Verfahren ein wenig an einen Forensiker erinnert, der seine Suche genau dokumentiert, so sind die gesammelten Spuren doch nicht da, um anhand von ihnen eine Situation zu rekonstruieren. Zwar ist man beim Betrachten der Fundstücke versucht, sich vorzustellen, wie sie dort hingekommen sind, wo der Künstler sie aufgelesen hat. Aber von den gleichen Objekten aus ließen sich immer wieder andere Geschichten erfinden – manche von ihnen wahrscheinlicher, manche unwahrscheinlicher. Sie verweisen uns mehr auf die Imagination der Betrachter*innen als auf die Ursprungsituation selbst. Statt bloße Referenzen zu sein, sind sie in ihrer Ästhetik als eigenständige Objekte präsent. In ihren durchsichtigen Hüllen werden sie zu faszinierenden, surrealen Miniaturlandschaften.

Dem eigenen Prozess auf der Spur

Agematsus Vorgehen erinnert an jene Künstler*innen, die bereits während der 1970er-Jahre die Spurensuche mit einer Art Feldforschung verbanden. In Anlehnung an wissenschaftliche Verfahren dokumentierten sie ihre Streifzüge in Schrift und Bild, klassifizierten die eingesammelten Dinge und stellten sie, wie in anthropologischen oder naturwissenschaftlichen Museen, in Vitrinen aus. Doch die vermeintliche Objektivität unterliefen sie durch einen spielerischen und freien Umgang mit den wissenschaftlichen Konventionen. Ihre Praxis zeigte, dass es ihnen weniger um das Endprodukt ging, als um den Prozess des Suchens und Beobachtens, der sich gleichermaßen auf sie selbst erstreckte. Auch das Gehen ist als fortlaufende Tätigkeit erst einmal kein Ergebnis, sondern eine Aktivität mit offenem Ende. Statt Spuren zu sammeln, kann das Gehen auch dazu einladen, den eigenen Prozess festzuhalten.

Yuji Agematsu, zip: 07.01.03 … 07.31.03, 2003, © Yuji Agematsu und Miguel Abreu Gallery, New York, Privatsammlung, Paris

Helen Mirra etwa nutzt das Gehen als eine Tätigkeit, mit der sie sich zurücknehmen, beobachten und bei den Dingen verweilen kann. Für die Reihe „Field Recordings“ (2010) produzierte sie jeweils auf Wanderungen in Bonn, Zürich und Berlin für jede Wegstunde mit einem aufgelesenen Zweig oder Stein einen grafischen Abdruck auf einem Tuch. Dazu bemalte sie die Gegenstände mit Tinte, presste sie auf ein Stück Stoff und rieb ihre Form daran ab. Die Stoffstücke nähte sie im Anschluss aneinander. Die Zweige verbinden sich dabei zu so etwas wie einem Pfad; Steine bilden Muster, die einer unbefestigten Straße gleichen. Dabei bleiben diese „Spuren“ von Mirras Wanderung jedoch abstrakt: Sie sind keine bildliche Dokumentation ihrer Aktion und keine Karte, und dennoch besteht ein enger konzeptueller Bund zwischen Prozess und Abdruck.

Der Begriff des „Field Recording“ spielt dabei auf das Aufzeichnen von Klängen der Umgebung an, beispielsweise durch Naturforscher*innen. Bei Mirra wird dies zu einem poetischen Verfahren, das nicht auswertet und deutet, sondern erst einmal zuhört, die Ohren (und die anderen Sinne) für die Umwelt öffnet. Für die Künstlerin ist diese Art des Arbeitens zentral: „I’m committed to being in the world, not as an explorer or a researcher but as a witness, especially listening to the non-dominant, non-humans.“

I’m commit­ted to being in the world, not as an explo­rer or a rese­ar­cher but as a witness, espe­cially listen­ing to the non-domi­nant, non-humans

Helen Mirra
Helen Mirra, Field Recordings © Helen Mirra und Meyer Riegger, Karlsruhe / Berlin
Markierungen: Gehen um sich einzuschreiben

Gehen hat aber nicht nur mit dem Spurensuchen, -sammeln oder -festhalten zu tun. Es ist auch eine Tätigkeit, mit der man sich einschreibt. Spuren und Markierungen zu hinterlassen kann zur politischen Aktion werden — gerade dort, wo Geschichte Gefahr läuft, verdrängt und vergessen zu werden. Dabei mag so etwas Simples wie ein Fußabdruck reichen.

Mit der Aktion „Land Mark (Foot Prints)“ (2001/02) machte das Duo Allora & Calzadilla gemeinsam mit einigen Aktivist*innen auf die umstrittenen Aktivitäten des US-Militärs auf der Insel Vieques vor Puerto Rico aufmerksam. Dort betrieb die Navy von 1941 bis 2003 einen Standort für Bombentests, militärische Manöver und zur Waffenlagerung. Zahlreiche Studien kamen zu dem Schluss, dass die Konsequenzen für die Bevölkerung und Natur gravierend waren, allein durch die hohe Präsenz von toxischen Schwermetallen im Boden. Auf die Markierungen des Lands reagierten die Aktivist*innen mit ihren eigenen Einprägungen. Mit selbstentworfenen Schuhsohlen, die Slogans und Bilder trugen, durchquerten sie in einer Aktion zivilen Ungehorsams das Sperrgebiet. Dabei beinhalteten die Botschaften, die sie dort mit ihren Füßen hinterließen, nicht nur Protest, sondern auch Ideen für eine Umnutzung des Ortes. Die ephemeren Spuren wurden mit Fotografien festgehalten; aber was zählte war die physische Einschreibung im Sand, mit der sie das Land für einen Moment besetzten und für sich reklamierten

Allora & Calzadilla, Land Mark (Foot Prints), 2001–02 © Allora & Calzadilla / Galerie Chantal Crousel, Paris

In ihrer Funktion ist die Spur etwas Paradoxes: Sie zeugt in ihrer Anwesenheit von etwas, was selber gerade abwesend geworden ist. Körper entziehen sich, Schritt für Schritt, während ihre Abdrücke vorübergehend bleiben. Für die politische Aktion mag das Hinterlassen solcher Markierungen eine Möglichkeit sein, Präsenz zu zeigen, die auch noch in der Abwesenheit funktioniert. Zugleich hält das Lesen von Spuren aufgrund dieser Dialektik eine bestimmte Erfahrung für uns bereit, schreibt die Medienphilosophin Sybille Krämer: „Es ist die Erfahrung, dass wir im Sichtbaren aufmerksam werden auf das Unsichtbare, im Anwesenden das Abwesende aufspüren, im Gegenwärtigen das Vergangene rekonstruieren […].“ Im Gehen bleibt die Möglichkeit, (fort)laufend Ausschau zu halten nach dem, was am und jenseits des Wegrands liegen mag.

WALK!

18. Februar – 22. Mai 2022

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