Ugo Rondinone beobachtet unsere Beziehung zur Welt und wirft Fragen auf, die bis in die Romantik zurückreichen.

Vereinzelt am Boden sitzend, wenden 13 junge Frauen und Männer ihren Blick nach innen, von ihren Kolleg*innen und den Besucher*innen ab. Jede*r bleibt für sich, aber sie gehören zusammen, soviel wird beim Betreten des Raumes sofort klar. Ihre langen, schlanken, durchtrainierten Glieder und die anmutige Körperhaltung geben sie als Tänzer*innen zu erkennen, die sich offenbar erschöpft ausruhen. Ob die „nudes“ (2010/11) demnächst ihre imaginäre Choreografie wieder aufnehmen oder für immer bewegungslos verharren, bleibt unklar. 

Die Haare der Figuren sind unter an Badekappen erinnernden Hauben verschwunden, und ihre Körper wurden zwar bis in die Hautporen hinein lebensecht nachgebildet, weisen aber überall Nähte und sogar Lücken auf, wo ihre Extremitäten oder der Torso nur unvollständig zusammengefügt wurden. Darüber hinaus macht die Gruppe einen orientierungslosen Eindruck, ihr fehlt die Richtung oder ein Zentrum, eine Regie, die das Zeichen zum Weitermachen gibt und aus den verstreuten Individuen (wieder?) eine funktionierende Gemeinschaft formt.

Ein Fraktal zur Geschichte zusammensetzen

Der Kontrast zwischen Detailtreue und Unvollkommenheit hat praktische Gründe, erklärt der Künstler: Jeder Körper wurde mithilfe von Formschalen im Detail abgenommen (deswegen die Kappen und die fehlende Kleidung), anschließend in mit unterschiedlichen Erdpigmenten vermischtem Paraffinwachs abschnittweise nachgebildet und erst am Ende millimetergenau wieder vervollständigt. Die Ästhetik der Bruchstellen habe ihm einfach gefallen, erklärt er im Gespräch mit Schirn-Kurator Matthias Ulrich, also behielt er sie. Wenn er um Aussagen zur (Be-)Deutung seiner Arbeit gebeten wird, beschreibt Rondinone lieber, was er tut, und einerseits spiegeln seine Werke diese Offenheit. Aber zugleich hat jede Material-, Größen- oder Formentscheidung, jede räumliche Setzung, jeder Titel eine präzise kalkulierte Funktion. Insofern bleibt es Besucher*innen wie mir überlassen, die ausgelegten Hinweise zu sammeln und wie ein Fraktal zu Geschichten zusammenzusetzen, die sich aus großen thematischen Bögen bis in kleinste Details hinein verästeln und gefühlt endlos weiter ausdifferenziert werden könnten.

Ugo Rondinone. LIFE TIME, Ausstellungsansicht, nude (XXXXXXXXXXXXX), 2010, Wachs, Erde, Pigmente, 77 x 87 x 85,5 cm, © Ugo Rondinone, Schirn Kunsthalle Frankfurt 2022, Foto: Norbert Miguletz
Alle gemeinsam, aber jede*r für sich

Ungeachtet ihrer jugendlichen Kraft präsentiert Rondinone die „Nackten“ sich aufstützend oder anlehnend, bis auf die Scham entblößt, zerstückelt, ‚wachsweich‘. Neben einer riesigen vertikalen Erdlandschaft („curved standing landscape“, 2020) und drei zeigerlosen, die Ewigkeit beziffernden Uhren („blue/red/yellow clock“, 2016) sitzen sie in der Schirn zwar alle gemeinsam, aber jede*r für sich.

Im Sinne ihrer gezielten Ambivalenz lässt sich die Installation so wahlweise als kunsthistorisches Zitat, als Kommentar auf die Leistungsgesellschaft und/oder als Allegorie auf die Endlichkeit der menschlichen Existenz (vgl. auch die titelgebende Leuchtschrift „Life Time“, 2019) lesen; zweifellos wären weitere Interpretationsansätze möglich.

Kunstimmanent betrachtet, beschwört die Darstellung nackter Tänzer*innen ein ganzes Arsenal historischer Vorbilder, besonders aus dem 18. und 19. Jahrhundert – vom Motiv der Badenden (Fragonard, Courbet, Cézanne, Munch), über Landschaftsakte bis zu bekleideten wie nackten Tänzerinnen (Renoir, Degas, Rodin) –, mit dem Unterschied, dass dort die Menschen und ihre Körper im Einklang mit ihrer Umgebung stehen.

PAUL CÉZANNE, SEPT BAIGNEURS, CA. 1900, Öl auf Leinwand, 38.0 x 46.0 cm, Fondation Beyeler, Riehen/Basel, Sammlung Beyeler © Foto: Robert Bayer Image via fondationbeyeler.ch

Ein Kommentar auf die Leistungsgesellschaft

Auf einer zweiten Ebene rückt der Entstehungskontext der Arbeit in den Blick, denn in den 2010er Jahren wurde das „erschöpfte Selbst“, welches sein Mandat zur Selbstverwirklichung (Alain Ehrenberg) loszuwerden beziehungsweise seine „Müdigkeit“ als bewussten Rückzug vom westlichen Leistungsmodell produktiv zu wenden suchte (Buyung-Chul Han), öffentlich ausgiebig diskutiert. Die normalerweise auf uneingeschränkten Einsatz, maximale Körperbeherrschung und Konkurrenzdruck fokussierte Berufsgruppe der Tänzer*innen, die körperliche und seelische Grenzen auf der Suche nach einem vermeintlich verlorenen Selbstausdruck überschreitet, vermittelt aus dieser Perspektive den vergeblichen Widerstand gegen Vereinzelung und Überforderung kapitalistischer Gesellschaften. Burnout oder Depression als subjektive Rückzugsstrategie.

Edgar Degas (1834 –1917), Kleine 14-jährige Tänzerin, 1878/79–1881
Bronze, H. 98 cm, Europäische Privatsammlung © Städel Museum, Foto: Horst Ziegenfusz. image via kultur-online.net

Und schließlich schiebt sich, in einer dritten Variante, nach zweieinhalb Jahren Pandemie unser Alltag über die präsentierte Szene. Es wurde viel darüber geschrieben, wie das Coronavirus den Tod von den verdrängten Rändern des kollektiven Bewusstseins wieder in die Mitte unseres Lebens zurückgebracht hat, und dass diese Erfahrung nicht nur negative Folgen für den gesellschaftlichen Dialog zeitigt; eine Einsicht, die Rondinone bekanntermaßen durch den frühen, tragischen Aids-Tod seines Lebenspartners den meisten von uns um Jahrzehnte voraus hat. So gesehen nimmt diese Installation das übergeordnete Ausstellungsmotto von der „Lebenszeit“ und damit eine der großen Fragen des Daseins unmittelbar auf, nämlich wie wir uns zu dem Wissen um unsere Sterblichkeit verhalten.

Endlichkeit als Bedingung und Geschenk

Vielleicht wäre deshalb auf dieser Makroebene die „lange Weile“ eine passendere Beschreibung des Zustands der dargestellten Figuren, denn „Langeweile“, schreibt Martin Heidegger, „zeigt fast handgreiflich, und besonders in unserem deutschen Wort, ein Verhältnis zur Zeit, eine Art, wie wir zur Zeit stehen, ein Zeitgefühl“. Die Endlichkeit wäre dabei Bedingung und Geschenk gleichermaßen, denn sie gibt einen Rahmen für das Zeitgefühl vor und ermöglicht so, dass wir uns zu ihr verhalten und bewusst darüber entscheiden können, wie wir sie verbringen (zum Beispiel in einer Kunsthalle). Diese Deutungsoption hat weniger beschreibenden als auffordernden Charakter: Fast möchte man den Figuren die Hand reichen und sie vom Boden wieder hochziehen. Selbstsorge und -verantwortung statt Rückzug.

Endlichkeit ist keine Eigenschaft, die uns nur anhängt, sondern die Grundart unseres Seins. Wenn wir werden wollen, was wir sind, können wir diese Endlichkeit nicht verlassen oder uns darüber täuschen, sondern wir müssen sie behüten.

Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, 1929/30

Ohne dass der Begriff „Romantik“ bislang gefallen wäre, scheint er, unserem Alltagsverständnis nach, durch alle oben exemplarisch beschriebenen Variationen hindurch. Die Motivwahl (Natur, Vereinzelung, Tod), die formale Inszenierung von Gegensätzen (Material, Größe, Farbe), wie auch das Sujet, die alle(s) überfordernde Frage nach dem „ich“, scheinen wie riesige Zaunpfähle auf diese so einflussreiche Epoche hinzuweisen. Und unbestritten sind wir bis heute von den Fragen geprägt, die uns die Romantik allererst ermöglicht hat zu stellen. Aber um es mit dem Frühromantiker Friedrich Schlegel zu sagen: „Es gibt Klassifikationen, die als Klassifikationen schlecht genug sind, aber ganze Nationen und Zeitalter beherrschen.“ Will heißen: Rondinone verweigert sich aus gutem Grund allzu direkter Zuschreibungen. Denn so sehr er Wert auf die Zugänglichkeit seiner Projekte legt, so wenig lässt sich deren Wirkungsweise in Schachteln verstauen, die mit im täglichen Sprachgebrauch abgeschliffenen Begriffen gekennzeichnet sind. Die Anstrengung, sich auf die Begegnungen, die er uns anbietet, einzulassen, dürfen Sie, liebe Leser*innen, genauso wie ich, selbst unternehmen. Lange-Weile bedeutet eben nicht Nichts-tun.

UGO RONDINONE. LIFE TIME

24. Juni – 18. Septem­ber 2022

Mehr Infos zur Ausstellung