Gauri Gills Fotografien geben ein stilles und empathisches Zeugnis dessen ab, was das Anthropozän in der indischen Gesellschaft bewirkt: eine fortschreitende Zerstörung der Natur und den Versuch der Menschen, in einer fragiler werdenden Welt zu überleben.

Die ungebremsten Auswüchse des Anthropozäns ­– eine neue geochronologische Epoche, die den massiven Einfluss des Menschen auf das Erdsystem beschreibt und in den Wissenschaften insbesondere im Kontext der Klimakrise breit diskutiert wird – spiegeln sich in den Werken von Gauri Gill wider. Ihre Fotografien geben ein stilles und empathisches Zeugnis dessen ab, was das Anthropozän in der indischen Gesellschaft bewirkt: eine fortschreitende Zerstörung der Natur und den Versuch der Menschen, in einer fragiler werdenden Welt zu überleben.

Wie der indische Historiker Dipesh Chakrabarty betont, sei es vorrangig der globale Süden, der die negativen Auswirkungen des Anthropozäns aktuell zu spüren bekäme. Und das, obwohl es der globale Norden sei, der die fortschreitende Erderwärmung durch seine immensen CO2-Emissionen zu verantworten habe. Es bestehe demnach eine entscheidende Asymmetrie zwischen den Produzent*innen und Betroffenen des globalen Klimawandels. 

Bereits heute zeichnen sich Folgen des Anthropozäns durch Hitze, Dürre und Artensterben ab. Insbesondere Gesellschaften, die auf Subsistenzwirtschaft, d.h. auf die Sicherung durch Eigenproduktion wie Landwirtschaft, angewiesen sind, leiden unter der immer weiter fortschreitenden ökologischen Krise. Die tiefgreifenden Veränderungen der Umwelt haben auch soziale Auswirkungen wie die Verschärfung von Armut und Klassenkonflikten. Eine Entwicklung, die gerade in Indien durch das hiesige Kastensystem fatale Konsequenzen hat.

Symptome der Industrialisierung in „Fields of Sight“

In den Werken von Gauri Gill wird das Anthropozän auf subtile Weise fotografisch fixiert. Der Entstehungszeitraum, der den meisten ihrer Serien zugrunde liegt, ermöglicht einen Blick auf die sich verändernde Umwelt, der über Jahrzehnte hinweg gereift ist. Die Werkreihe „Fields of Sight“ beispielsweise wurde 2013 begonnen und ist bis heute nicht abgeschlossen. Gauri Gill und der indigene Warli-Künstler Rajesh Vangad dokumentieren darin gemeinsam die Industrialisierung, die sich in die indische Landschaft eingeschrieben hat. Gill fotografiert und Vangad ergänzt ihre Fotografien mit seinen persönlichen Eindrücken nachträglich mittels Malerei. 

Gauri Gill. Acts of Resistance and Repair, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2022, Foto: Norbert Miguletz

Dank dieser kollaborativen Arbeitsweise transportieren die mit Vangads Zeichnungen übersäten Fotografien nicht nur die Momentaufnahme einer Landschaft, sondern auch Geschichten, die sich über einen langen Zeitraum hinweg aufgebaut haben: Sie zeugen von der stetigen Veränderung der Landschaft und der ökologischen Zerstörung von Lebensraum, welche die Lebensrealität der indigenen Bevölkerung Indiens bedroht und bieten damit eine Möglichkeit, die sonst nur schwer erkennbaren und komplexen Prozesse des Anthropozäns festzuhalten. Das Triptychon „Jal, Jungal, Jemeen“ (Wasser, Wald, Land) ist ein Beispiel dafür und zeigt fotografierte Landschaften, die übermalt worden sind mit Fabriken, Frachtern, Zügen, Eisenbahnen, Straßen, Antennen, Telefonmasten, Arbeitsprozessen und Arbeiter*innen. Die Malerei ist über die Fotografie hinweggefegt und hat sie verändert, wie die Symptome der Industrialisierung, die über das Land hinweg gezogen sind und es verändert haben – zum Nachteil der indigenen Bevölkerung. 

Gauri Gill und Rajesh Vangad, 'Jameen', Teil des Tryptichons 'Jal, Jungal, Jameen', aus der Serie 'Fields of Sight’, 2021 © Gauri Gill und Rajesh Vangad
Der Wandel im urbanen Raum

In anderen Werkserien komplementiert Gauri Gill den Blick in die Landschaft mit dem Wandel im urbanen Raum. In der Reihe „Rememory“, an der sie seit 2003 bis heute fortlaufend arbeitet, fotografiert sie städtische Wohnkomplexe. Ein gespenstiges Ambiente umgibt Häuser ohne Menschen, Natur ohne Pflanzen und Städte ohne Leben. Auf dem Foto „Guargon 2004 (a)“ sieht man ein Gebäude, das durch die vergitterten Fenster an ein ehemaliges Gefängnis erinnert. Der kleine Weg, der zu dem Haus führt, ist mit Müll gepflastert. In der kargen Umgebung wirkt das Gebäude wie ein Fremdkörper. Das Bild lässt die Imagination einer verlassenen Stadt aufkommen, die nur noch Spuren einstmaliger Zivilisation trägt. Enorme Hitze und Naturzerstörung sorgen im Anthropozän für einen großflächigen Verlust von Lebensraum, der im Zusammenspiel mit der fortschreitenden Gentrifizierung vorherrschende Klassenkonflikte verschärft. Verlassene Städte sind die Konsequenz.

Dies zeichnet sich auch in dem Foto „Jodhpur“ von 2006 ab: Die Stadt, die einst gebaut wurde, um Menschen in einer fragiler werdenden Umwelt ein neues Zuhause zu geben, zeigt sich in der Fotografie als ein gescheitertes Wohnprojekt. Denn um neuen Wohnraum zu realisieren, werden viele der dort ansässigen Landbewohner*innen verdrängt. Durch ökonomische Zwänge sehen sie sich in der Folge genötigt, als Wanderarbeiter*innen auf den Baustellen zu arbeiten, die ihr eigenes Land sukzessiv zurückdrängen. Gills Fotos erzählen eine berührende Geschichte, die einen Prozess einfängt, der weit vor der Entstehung der jeweiligen Fotografie seinen Anfang genommen hat.

Gauri Gill, 'Gurgaon 2004 (a)', aus der Serie ‘Rememory’, seit 2003 © Gauri Gill
Anthropozäne Erzählungen ohne die Vorzüge der globalisierten Welt

Die darin enthaltene Lebensrealität der Menschen ist unausweichlich mit einer anthropozänen Erzählung verbunden, allerdings ohne die Vorzüge der globalisierten Welt. Es sind viel mehr prekäre Lebensumstände, die Gill durch die verlassenen Wohnhäuser und Darstellungen einer marginalisierten Landbevölkerung zeigt. Auch ein Foto aus der 1999 begonnenen Werkserie „Notes from the Desert“ verdeutlicht dies: Während eine Schülerin auf dem Weg nachhause mühsam ihre Schulsachen auf dem Rücken trägt, muss sie mehr als sechs Meilen zu Fuß laufen. Auf dem sandigen Boden der dürren Landschaft deuten sich die Abdrücke eines Baggers ab – erneute Spuren des Anthropozäns.

Gauri Gill scheint daran gelegen zu sein, die Realität in ihren unterschiedlichen Facetten und Ambivalenzen einzufangen, wie sie oft erst nach andauernder Beobachtung oder langanhaltendem Zuhören zu bemerken ist. Ihre Werke erlangen dadurch Ehrlichkeit und Intimität. Betrachtet man die Bilder, stellt sich ein Gefühl der Vertrautheit ein und eine Geschichte deutet sich an, die dem Entstehungsmoment der jeweiligen Fotografie vorausgeht. Der politische Moment, der den Fotos im Kontext der Klimakrise innewohnt, schwingt unaufdringlich im Subtext ihrer Geschichten mit und verdichtet sich beim weiteren Nachdenken zu einem bedenklichen Zeugnis des Anthropozäns in Indien.

Gauri Gill, 'Untitled (5)', aus der Serie 'Acts of Appearance', seit 2015 © Gauri Gill

Gauri Gill. Acts of Resistance and Repair

13. Okto­ber 2022 bis 8. Januar 2023

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