Lebensreform, Freiheit und bäuerliche Idylle: Nicht nur Paula Modersohn-Becker lebte in einer der ländlichen Künstlerkolonien, die im 19. Jahrhundert in ganz Europa entstanden. Bis heute haben viele dieser Orte Kult­sta­tus.

Habt ihr schon mal etwas von der Künstlerkolonie Worpswede im Teufelsmoor gehört? Paula Modersohn-Becker-Fans mit großer Wahrscheinlichkeit, denn dort lebte und arbeitete die Malerin bis zu ihrem frühen Tod 1907. Das Phänomen der Künstlerkolonien wurzelt in den 1840er Jahren und erstreckt sich von Barbizon in Frankreich, Worpswede bei Bremen bis hin nach Skagen in Dänemark – um nur einige Orte zu nennen, die von den Künstlerinnen und Künstlern erobert wurden. Als Gegenbewegung zu dem modernen Leben in den expandierenden Großstädten, ließen sich Kunstschaffende auf dem Land nieder. Ihr Interesse galt den pittoresken Landschaften und der Darstellung der scheinbar ursprünglichen Lebensweise abseits der Metropolen. Bis heute haben einiger dieser Kolonien einen unvergleichlichen Kultstatus. Hier werden sechs Highlights von Künstlerkolonien des 19. und 20. Jahrhunderts vorgestellt.

1. Barbizon

Der kleine Ort Barbizon, der am Waldrand von Fontainebleau gelegen ist, gilt als Vorbild vieler europäischer Künstlerkolonien. Die Erschließung Barbizons geht auf das Jahr 1830 zurück, wobei erst Jean-François Millet ab den 1850er Jahren dem Ort zu seiner außergewöhnlichen Popularität verhalf. Millets Interesse galt der einfachen, jedoch erschöpfenden, bäuerlichen Tätigkeit. Seine zentralen Bilderfindungen kreisen um das ländliche Leben und die Darstellung des Pflügens und Dreschens der Äcker oder das Lesen der Ähren. Bahnbrechend an Millets Darstellungen war die Art und Weise, wie er die kräftezehrende Arbeit visualisierte, nämlich in ihrer ganzen Würde und Kraft. Darin sah Millet eine unverdorbene Ursprünglichkeit. Barbizon zog nicht nur zahlreiche französische Künstlerpersönlichkeiten wie Théodore Rousseau oder Charles Émil Jacque an, sondern auch internationale Künstler und Künstlerinnen wie Max Liebermann, Mary Cassatt oder Eliza Haldeman.

Jean-François Millet, Des glaneuses (Die Ährenleserinnen), 1857 © Musée d’Orsay, Dist. RMN-Grand Palais / Patrice Schmidt, Image via www.musee-orsay.fr

2. Kronberg bei Frankfurt

Die Künstlerkolonie Kronberg, im Taunus bei Frankfurt gelegen, zählt mit ihrem Gründungsdatum um 1840 zu den ältesten deutschen Künstlerorten. Viele der dort lebenden Künstler waren Absolventen des Städelschen Kunstinstituts in Frankfurt. Zentrale Figuren der Künstlerkolonie waren Anton Burger, Philipp Rumpf, Carl Theodor Reiffenstein und Otto Scholderer. An der Kronberger Künstlerkolonie lässt sich ein zentraler Trend des 19. Jahrhunderts deutlich erkennen: Die Abkehr von den akademischen Traditionen der Historienmalerei und die Hinwendung zu Themen des Alltags, den Bauern und der Darstellung beziehungsweise Überhöhung des scheinbar unverdorbenen Landlebens. Die Kronberger Künstlerkolonie gehörte malerisch zum Realismus und löste sich durch die zunehmende Popularität des Impressionismus in Deutschland auf.

Anton Burger, Mädchen im Maien, Image via www.kronberger-malerkolonie.com

3. Dachau

Dachau, in der Nähe von München, zog ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Münchner Maler Simon Warnberger und Johann Georg von Dillis durch die Schönheit der unberührten Mooslandschaft an. Bei klarem Himmel ließen sich sogar die Zinnen der Alpenkette erkennen. Kein Wunder also, dass es die Landschaftsmaler dorthin verschlug. In Dachau verkehrten auch Künstlerpersönlichkeiten wie Max Lieberman, Franz Marc oder Adolf Hölzel. Insbesondere Hölzel verhalf Dachau zu einer enormen Popularität, denn er gründete im Jahr 1899 eine Malschule, an der viele Künstlerinnen studierten, da Frauen an den Staatlichen Akademien nicht zugelassen waren. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs endete auch das Bestehen der Künstlerkolonie in Dachau.

Franz Marc, Moorhütten im Dachauer Moos (1902), Image via WikiCommons

4. Worpswede

Zweifelsohne ist Paula Modersohn-Becker die heutzutage prominenteste Figur aus der Worpsweder Künstlerkolonie im Teufelsmoor, nordöstlich bei Bremen gelegen. Von der dortigen Moorlandlandschaft mit den idyllischen Birken und Kanälen überwältigt, ließen sich im Jahr 1889 erstmals die Maler Fritz Mackensen, Otto Modersohn und Hans am Ende nieder. Die Künstler-Vereinigung Worpswede wurde aber erst im Jahr 1894 mit Fritz Mackensen und Heinrich Vogeler gegründet und bereits 1899 aufgrund von zwischenmenschlichen Konflikten aufgelöst. Darüber hinaus lebten die Künstler und Künstlerinnen aber weiterhin in Worpswede und wurden auch als einheitliche Gruppierung wahrgenommen. Neben Künstlerinnen wie Modersohn-Becker und Clara Rilke-Westhoff hielten sich auch Hermine Rohte, Julie Wolfthorn, Ottilie Reylaender und Maria Franck im malerischen Worpswede auf.

Freilichtmalerinnen in Worpswede, angeführt von Fritz Overbeck, fotografiert von Hermine Rohte, 1896, © Paula-Modersohn-Becker-Stiftung, Bremen
Paula Modersohn-Becker, Birkenallee im Herbst, 1900
Paula Modersohn-Becker, 1905, Foto: Karl Brandt
5. Skagen

Von Worpswede nach Skandinavien: Der nördlichste Ort Dänemarks beherbergte ab den 1870er Jahren die Skagener Künstlergruppe. Die Kopenhagener Maler Michael Ancher, Karl Madsen und Viggo Johansen eroberten den einstigen Fischerort, der an der nördlichsten Spitze Dänemarks liegt und heirateten einheimische Frauen. Darunter war auch Anna Brøndrum, die spätere Ehefrau von Michael Ancher. Die Landschafts- und Genremaler visualisierten die Erhabenheit der dänischen Dünen und der Heidelandschaft. Eine typische Praxis war das Freilichtmalen und die Erkundung des einfachen, aber sehr harten Lebens der Fischer und ihrer Familien. Heute gilt die Malerin Anna Ancher als bekannteste Vertreterin der Künstlerkolonie.

Michael Ancher, Mandskabet reddet (Besatzung gerettet), 1894, Image via smk.dk

6. Monte Verità

Wenn es um idyllische Landschaften geht, dann darf die Schweiz natürlich nicht vergessen werden: Das Siedlungsprojekt Monte Verità – der Berg der Wahrheit – wurde im Jahr 1900 auf einem Hügel oberhalb des Dorfes Ascona im Tessin gegründet. Im Zentrum der Gruppe um Ida und Jenny Hofmann, Henri Oedenkoven sowie Karl und Gusto Gräser, stand zunächst weniger die bildende Kunst, als vielmehr eine avantgardistische Lebensreformbewegung, die Körper, Natur und Kultur miteinander in Einklang bringen wollte. Essenziell war der Verzicht auf alle tierischen Produkte, Kaffee und Alkohol.

Um den Körper von den gesellschaftlichen Normen zu befreien, wurde in der freien Natur in luftigen Gewändern oder sogar nackt getanzt. An diesen Veranstaltungen nahmen unter anderem Mary Wigman und Sophie Taeuber-Arp teil. Mit der Zeit entwickelte sich der Ort zu einem Sanatorium, welches die internationale Bohème anzog. Weitere Besucher und Besucherinnen waren Hermann Hesse, Heinrich Vogeler, Hans Arp, die Gräfin Franziska zu Reventlow oder die Tanzikone Isodora Duncan. In den 1920er fand das Utopie-Projekt ein jähes Ende, als der Berg von dem einflussreichen Bankier und Kunstsammler Eduard von der Heydt gekauft und ein mondänes Hotel errichtet wurde.

Beide Abbildungen: Image via www.monteverita.org

Paula Modersohn-Becker

8. Oktober 2021 bis 6. Februar 2022

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