Carsten Nicolai zeigt eine monumentale Installation in seiner Geburtsstadt Chemnitz. Max Hollein über einen Künstler, der mit seinen Arbeiten seit jeher neue ästhetische Dimensionen eröffnet.

Ein sofort sich einstellendes Gefühl, als ich vor knapp 20 Jahren erstmals ein Konzert, also eine Arbeit von Carsten Nicolai sah: das ist die Kunst unserer Zeit und für zukünftige Zeiten. Es sind Werke, die eine  eindrucksvolle Welt des künstlerischen Agierens mit Aktion und Reaktion, Ursache und Wirkung, Input und Output innerhalb eines bewusst reduzierten Vokabulars entstehen lassen. Versuchsanordnungen, Modelle, Gleichungen, Regeln und Gesetzmäßigkeiten materialisieren sich in eine immanent multisensuell erfahrbare Form.

Prinzipien, die heute in der Kunst wesentlich sind, findet man in Carsten Nicolais  Arbeiten von Anfang an – Kopieren, Übertragen, Übersetzen als kreativer Impuls, Fragmentierung, Fokussierung, Unschärfe und Fehler als fruchtbare künstlerische Modulation, forcierte Fehlinterpretation von Signalen, die neue ästhetische Dimensionen eröffnen.

Carsten Nicolai, unitape, 2015, Ausstellungsansicht, Kunstsammlungen Chemnitz, Foto: Uwe Walter, © VG Bild-Kunst, Bonn 2015

Es ist bei aller sensorischer Kraft und suggestiver Wirkung die Härte, Strenge und Stringenz seiner Arbeiten, die diese so faszinierend machen. Die Kondensation eines multisensorischen Phänomens, einer komplexen naturwissenschaftlichen Fragestellung, eines grundsätzlichen Evolutionssystems in eine vollkommen neuartige, eigenständige ästhetische Form. Abstraktion nicht als Gegensatz zur Figuration sondern als Element der Reduktion von Komplexität, als Minimierung von Variablen innerhalb eines umspannenden Gleichungssystems.

Carstens Arbeiten, seine Bilder, Objekte, Filme, Installationen, Kompositionen, Konzerte und Architekturen lassen durch Fokussierung auf eine Quintessenz sowie durch Agieren innerhalb eines sich immer wieder neu definierenden, modellhaften Regelwerks einen alles durchdringenden künstlerischen Ausdruck entstehen. Es sind multisensorische Kunstwerke, die in ein elementares Ereignis implodieren und ein kapitales Erlebnis für den Betrachter evozieren können – Differenz mutiert in Konvergenz. Nicolais komplexe Modulationen von Licht, Sound, Zeit und Raum sind keine Erklärungsmodelle oder Anschauungsexerzitien über naturwissenschaftliche Phänomene sondern vielmehr scharf fokussierende ästhetische Arrangements und beeindruckende künstlerische Verstärker unserer multisensorischen Perzeption der Welt als auch der Regeln und Erklärungsmodelle, die wir zur kognitiven Verarbeitung derselben seit Jahrhunderten entwickelt haben.

Nico­lais komplexe Modu­la­tio­nen von Licht, Sound, Zeit und Raum sind beein­dru­ckende künst­le­ri­sche Verstär­ker unse­rer Welt

Max Hollein
Carsten Nicolai, unitape, 2015, Ausstellungsansicht, Kunstsammlungen Chemnitz, Foto: Uwe Walter, © VG Bild-Kunst, Bonn 2015

Die SCHIRN präsentierte im Jahr 2005 mit "Anti Reflex" eine große Übersichtsausstellung des Künstlers Carsten Nicolai in Frankfurt. Bereits im Jahr 2002 war er als Künstler, Musiker und Organisator maßgeblich an der Ausstellung "Frequenzen [HZ]" in der SCHIRN beteiligt.

In den Kunstsammlungen Chemnitz ist noch bis zum 8. November 2015 seine Arbeit "unitape" zu sehen. Die monumentale audiovisuelle Installation hat Carsten Nicolai eigens für das Museum in seiner Geburtsstadt entworfen.

Titelbild: Carsten Nicolai, 2008, Foto: Sebastian Mayer