Welche Ausstellungen 2010 einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben, was uns 2011 erwartet: Kuratorin Katharina Dohm blickt in ihren Taschenkalender – und trägt die neuesten Events ein.

Jedes Jahr schenkt mir meine Schwester einen schicken, praktischen Leder-Taschenkalender, und zum Glück bekomme ich ihn schon vor Weihnachten. Die Schwester weiß aus Erfahrung, dass man die wichtigen Termine für Januar ja schon im Dezember einträgt. Sobald der Kalender da ist, beginnt mein persönlicher Jahresrückblick, denn ich pflege Geburtstage und Jubiläen altmodisch wieder ins neue Jahr zu übertragen. Das ist wie Inventur und Bereinigung in einem Schritt. Eingetragen heißt noch lange nicht, dass ich es nicht doch vergesse -- und nicht Übertragen gibt auch keine Garantie fürs Vergessen.

Zu den Geburtstagen haben bereits Ausstellungshighlights wie die Venedig Biennale einen Eintrag erhalten, und da denke ich an meine absolute Lieblingsneujahrskarte: „Art as an eternal one renewal" schreibt mir da mein netter französischer Kuratorenkollege und wünscht mir weiterhin alles Gute für 2010. Neben den Fixdaten in meinem Kalender nun die Gewissheit, dass Kunst die ewige Erneuerung bringt -- ob nun 2010 oder 2011 ist dann doch auch völlig wurscht.

Neujahrskarte: „Art as an eternal one renewal“

Wie immer geht es im ewigen Kunstturnus so weiter, und dieses Jahr werden wir uns sicherlich alle wieder in Venedig treffen, in hoffnungsvoller Erwartung auf Erneuerung. Sollte sie nicht erfüllt werden, wissen wir immer noch, wo es auf dem Weg vom Giardini zum Arsenale den besten Sprizz gibt.

Dieses Jahr geht's auch schon direkt im Januar nach Basel, um dort in der Kunsthalle Bettina Pousttchis Einzelausstellung zu sehen und auf dem letzten Drücker die frühen 60er von Andy Warhol im Kunstmuseum und die Ausstellung der dänischen Künstlerin Kirstine Roepstorff im Museum für Gegenwartskunst. Im Februar nach Köln ins Wallraf-Richartz-Museum, um mir dort als Kontrastprogramm zu Courbet den akademischen Cabanel anzuschauen und womöglich auch den französischen Kurator.

Während ich schon dabei bin, 2011 anzugehen, merke ich, dass ich das Jahr 2010 noch gar nicht ausgewertet habe. Pingelig mache ich mir Notizen zu Ausstellungen ins Büchlein. 2010 begann mit den minimalistisch-geometrischen Gemälden von Alan Uglow, die im Museum Wiesbaden ausgestellt waren. Eine Entdeckung für mich, und zudem staunte ich wie immer über die grandiosen Jawlensky-Räume in Wiesbaden. Danach folgt ein Eintrag zum „Schönsten Museum der Welt" in meiner Heimat- und Kulturhauptstadt 2010, Essen. Wirklich, eine wunderschöne Ausstellung, in der die ehemalige Vielfalt der Sammlung Folkwang über Malerei der Moderne, Impressionismus und Expressionismus, asiatische und ozeanisches Kunsthandwerk und Skulptur zum Ausdruck kam. Vor allem hatten mich die japanischen Theatermasken und der „Steinbruch von Bibémus" von Cézanne beeindruckt. Beim Anblick von Letzterem fiel der Groschen sicherlich laut zu Boden. Denn endlich sah und begriff ich, was Courbet-Kurator Klaus Herding meinte, als er vom Einfluss Courbets auf die Moderne, speziell auf Cézanne sprach. Die Farbbehandlung und Naturschilderung des Steinbruchs bei Cézanne scheint ohne Courbets Grotten und Landschaftsbilder nicht denkbar.

Wieder irgendwann in Hessen, hoch im Norden im Fridericianum: „(White Reformation Co-op) Mens Sana in Corpore Sano". Allein die Erinnerung lässt mich wieder sprachlos werden. Ganz sicher ist diese Ausstellung von Thomas Zipp meine persönliche Topausstellung des letzten Jahres. Nahezu das gesamte Haus hat er in ein „psychiatrisches Hospital" verwandelt und eine innere Architektur aus abgedunkelten Gängen und Kammern hineingebaut und wieder bestückt mit Malerei, Zeichnungen, Skulpturen und Objekten, Behandlungszimmer, Küche, Gemeinschaftsraum, Gummizelle, Schlafraum, Kapelle mit Elektroorgel -- und Beichtstühlen, die ehemals als Toiletten dienten. Trotz der anderen Besucher in der Ausstellung schlich ich aufgeregt über die Gänge und hatte große Angst, entdeckt und eingewiesen zu werden. Nein, glücklicherweise ging es auf Entdeckungsreise mit den SCHIRN-FREUNDEN nach Neapel. Zeitgenössische Kunst wollten wir uns dort ansehen und damit sind wir bei meinem Top 2 des Jahres, der Geheimtipp eines SCHIRN-FREUNDS: Anton Dohrns „Stazione Zoologica".

Weder Hitze, noch Fußball-WM-Viertelfinale konnten uns davon abhalten, die „Zoologische Station" zu finden, dann nachdrücklich darauf zu bestehen, sofort in die Bibliothek gelassen zu werden, und nicht in einer Stunde, wenn der Kassierer frei hat, wieder zu kommen. Unbedingt wollten wir die Fresken von Hans von Marées sehen, der 1873 zusammen mit Adolf von Hildebrand den Raum gestaltete. Die Fresken zeigen Szenen vom Leben am Mittelmeer, Fischer auf der See, Freunde von Anton Dohrn und einen arkadischen Orangenhain mit allegorischen Darstellungen der Lebensalter. So schweißtreibend und schwierig der Weg dorthin war, der Anblick hat uns alle wieder versöhnt. Leider ist der Zustand der Fresken äußerst bedenklich, und es ist fraglich, wie lange man sie noch bewundern kann. Zum Glück hatten wir noch die zweite Halbzeit und diese furiosen Tore gegen Argentinien gesehen. Aber wir mussten unseren Jubel diplomatisch unterdrücken. Italien war zwar lange ausgeschieden, aber die „Hand Gottes", der Trainer der Argentinier, Diego Maradona ist ein Stadtheiliger Neapels und wird sogar in der Altstadt mit kleinen Altären verehrt.

Apropos Altstadt: Neapel und zeitgenössische Kunst schließen einander nicht aus, und eben dort befinden sich zwei außergewöhnliche Orte. Das Museo MADRE, Museum für zeitgenössische Kunst, derzeit betroffen von großen finanziellen Streichungen, zeigte damals neben seiner Sammlung eine großartige Ausstellung zu Franz West. Die Fondazione Morra Greco lädt regelmäßig Künstler für ein kurzes Stipendium ein, das üblicherweise mit einer Ausstellung endet. Letztes Jahr sahen wir einen verlassenen Kellerraum: Robert Kusmirowski und Roman Ondák hatten das Obergeschoß gleichsam in ein Alfred-Hitchcock-Filmset verwandelt. Lediglich namensverwandt die Fondazione Greco, die zudem Träger des Hermann Nitsch Museums in Neapel ist, die Sammlung Terra Motus und dann noch die Galerien Lia Rumma, Fonti ... etc., etc.

Bleiben wir in Italien: V

Dan Perjovschi, rumänischer Pavillon der Biennale Venedig, 2010.

Rumänien verwirrt und zeigt eine Gemeinschaftarbeit mit dem Künstler Dan Perjovschi, der vor ein paar Jahren den Frankfurter Portikus bearbeitet hat. (Sollte dieses Jahr die Biennale versagen, verschafft die fulminante Ausstattung von Tintoretto in der Scuola Grande di San Rocco immer wieder Erneuerung und Nackenstarre.)

In Hamburg sehe ich Ende des Jahres die Gruppenausstellung „Powerhouse", an der zahlreiche Frankfurter Künstler teilnehmen. Das Powerhaus ist eine alte Stadtvilla, die vor der Kernsanierung nochmal richtig gerockt werden durfte. Die Zusammenstellung war ganz schön gewagt, eben so wie das Treppenhaus aussah. Aber gerade diese krude Zusammenstellung war auch der Erfolg dieser Ausstellung -- und der Stimmung an der Eröffnung. Bei Kernsanierung denke ich an den Kunstverein Lola Montez und hoffe, dass die Versteigerung genügend Geld eingebracht hat, um die notwendigen Baumaßnahmen durchzuführen.

In Städten wie Hamburg und Frankfurt, in denen es Akademien, aber wenig räumlichen Freiraum für Künstler gibt, haben es die sogenannten „off-spaces" nicht einfach, überhaupt einen Raum zu finden. Häufig sind diese Ausstellungsorte der Beginn für Künstlerkarrieren und gerade auch für international bekannte und erfolgreiche Künstler weiterhin interessant, eben weil sie einen Freiraum geben, den es in Museen, Kunsthallen oder Galerien nicht gibt. Abgesehen davon zeigt die große Resonanz und die zahlreichen Besucher bei Aktionen wie „Haunted House" -- Städelschüler verwandelten ein Altstadthaus in Sachsenhausen in ein spektakulär-unheimliches Geisterhaus -- oder Ausstellungen im quasi privaten Räumen wie bei „Schacht", dass es offensichtlich ein Interesse und Bedürfnis bei Künstlern wie Besuchern für diese „off-spaces" gibt.

Keine weiteren Einträge in meinem Büchlein. Neue Seite: Ausstellungen 2011, es kann losgehen.