Kuratorin Ingrid Pfeiffer wurde in London trotz einsetzender Routine von überragenden Ausstellungen überrascht und entdeckte sogar überzeugende Konzepte auf den großen Kunst-Messen.

Seit ein paar Jahren lohnt es sich doppelt, im Oktober zur Frieze Kunstmesse nach London zu fliegen: Im Gegensatz zu der auf Gegenwartskunst spezialisierten Frieze New York im Mai und der „normalen“ Frieze in dem üblichen Zelt im Regent’s Park, bietet die Frieze Masters weiterhin ein qualitätvolles Programm auch zur Klassischen Moderne und der Nachkriegskunst. Die ruhigere, elegante Präsentation in dunklen Grau-Tönen und das Entdecken von vergessenen Künstlern, nicht nur Europas, sondern beispielsweise Süd-Amerikas, macht Freude und zeigt, dass auch Messen noch Überraschendes bieten können. Nach all den Messe-Besuchen in vielen Jahren des Berufslebens macht sich nicht nur bei mir, sondern bei vielen Kollegen mit denen man redet, eine gewisse Messe-Müdigkeit breit.

Im Inneren des Neubaus der Tate Modern, Foto: Schirn Magazin, 2016

Die Messestände sind so teuer, dass die Galeristen kaum noch unbekanntere Künstler ausstellen (können), weil sonst die Verkäufe weit hinter den horrenden Gesamtkosten zurück bleiben. Aus diesem Grund sieht man oft nur noch schlechtere Werke von scheinbar sicheren „big names“ anstatt das Gegenteil. Gepunktet hat die Frieze dieses Jahr für mich durch einen Abschnitt mit kuratierten Ständen, der den 1990er-Jahren gewidmet war. Wie schnell Zeitgenössisches historisch wird und was davon übrig bleibt, ist eine interessante Frage: So war es interessant, gute Künstler wieder zu sehen wie Karen Kilimnik oder Michael Landy, um die es scheinbar etwas ruhiger geworden ist, daneben Wolfgang Tillmans, der seither zu einer stabilen Größe wurde.

Modern, cool und trotzdem angenehm

Aber man fährt nach London vor allem auch wegen der wichtigen Ausstellungen – und dieses Jahr zusätzlich, um den viel besprochenen Tate-Neubau zu sehen. Die zehnstöckige pyramidale Struktur des „Switch-House“ fügt sich organisch an den vorhandenen Hauptbau an und ist ein genialer Wurf der Architekten Herzog & de Meuron. Außen Backstein, innen Beton, dazu Holzfußboden – modern, cool und trotzdem angenehm für die Besucher. Licht im Treppenhaus kommt durch ein netzartiges Fenstersystem, das den sonst schweren Bau elegant durchbricht.

Der Neubau der Tate Modern, Foto: Schirn Magazin, 2016

Inhaltlich hat sich die Tate Modern große Veränderungen auf die Fahnen geschrieben, nun ganz besonders unter der Leitung der neuen Direktorin Frances Morris: Abwendung von einer rein westlichen Kunst, Globalisierung, Sammeln von Kunst aus allen Weltteilen und – ganz wichtig – das gezielte Sammeln und Ausstellen von Kunst von Frauen. So gibt es im Neubau einen fulminanten Raum mit Werken von Louise Bourgeois und aktuell eine umfassende Retrospektive zu Georgia O‘Keeffe. Letztere hat mich beeindruckt, was die Breite des Werkes und die Qualität in allen Schaffensphasen betrifft. Weniger inspiriert war ich von der Präsentation: Durchgängig weiße Wände, auf denen manche Werke blass aussehen, dazu eine sehr konventionelle Hängung ohne Dramaturgie oder Höhepunkt. Chronologisch Raum nach Raum, dazu ein Wandtext, das ist alles, was den Ausstellungsarchitekten einfiel. Aus Sicht der SCHIRN (jede unserer Ausstellungen hat den Anspruch, anders auszusehen), etwas langweilig. Doch vielleicht ist das von der Tate so (puristisch) gewünscht?

Mit eigenen Augen

Ein weiterer Höhepunkt in London war für mich die Picasso-Porträt-Ausstellung in der National Portrait Gallery. Man denkt ja oft, dass man Picasso hinlänglich kennt – und dann ist das Werk dieses Allround-Künstlers doch wieder einmal ein umwerfendes Erlebnis voller Überraschungen. Einige der frühen Porträts aus Picassos ersten Jahren in Paris hatte ich vor fast drei Jahren für die "Esprit Montmartre" Ausstellung versucht, auszuleihen. Nicht alles gelang. Nun war es besonders schön, diese selten ausgestellten Werke mit eigenen Augen zu sehen.

Ausstellungsansicht in der Tate Modern, Foto: Schirn Magazin, 2016
Ausstellungsansicht „Abstract Expres­sio­nism“ in der Royal Academy, Foto: Schirn Magazin, 2016

Die „Ausstellung des Jahres“, wie die London Times es nannte, ist aber eindeutig „Abstract Expressionism“ in der Royal Academy: Dafür alleine lohnt es sich, noch bis zum 7. Januar nach London zu fliegen, denn ich glaube nicht, dass etwas Ähnliches in den nächsten zwanzig Jahren rein finanziell möglich sein wird, und schon gar nicht in Deutschland. Der Grund dafür liegt in den unglaublichen Versicherungssummen, die man eigentlich gar nicht mehr beziffern kann. Wenn schon ein kleinerer Rothko heute für rund 150 Millionen Dollar versteigert wird – für wieviel soll man dann ganze Pollock-, Rothko-, Ad Reinhard, Barnett Newman etc. –Räume versichern? Wie viele Nullen kann eine Versicherungspolice haben?

Davon abgesehen hat der Kurator David Anfam fünf Jahre lang dieses Projekt vorbereitet, und nur dank seiner exzellenten Kontakte als Verfasser des Rothko-Werkverzeichnisses und Senior Curator des Clifford-Still-Museums in Denver und allgemeiner Experte für das Themenfeld konnte diese Anzahl hochkarätiger Werke zusammen getragen werden. Es ist ein unglaubliches Erlebnis, in einem Raum zwischen zwei großformatigen Hauptwerken von Jackson Pollock zu stehen (eines davon kommt aus Australien), dazwischen Skulpturen von David Smith. Auch wenn manche der Räume für meinen Geschmack zu eng gehängt waren, gehört diese Ausstellung zum Besten, was ich bisher in London gesehen habe.

„Abstract Expres­sio­nism“ in der Royal Academy, Foto: Schirn Magazin, 2016
Ausstellungsansicht „Abstract Expres­sio­nism“ in der Royal Academy, Foto: Schirn Magazin, 2016