Abseits der roten Teppiche kommt Kuratorin Esther Schlicht während der Berlinale 2015 auf die Spur mehrerer Ausstellungen, die um das Thema der Archivierung kreisen.

Es ist, wenn man für Recherchen oder Verhandlungen in Sachen Kunst unterwegs ist, immer wieder anregend neben Kunstmuseen und Kunstausstellungen auch Museen ganz anderer Art zu besuchen. Eine besondere Schwäche habe ich persönlich für naturkundliche und naturhistorische Institutionen, wo sich einiges über Präsentationsformen lernen und mitunter auch die Inspirationsquelle des einen oder anderen Künstlers aufspüren lässt. Sei es im American Museum of Natural History in #New York mit seinen atemberaubenden Dioramen; im Pariser Muséum national d'histoire naturelle mit dem dazugehörigen Musée de l'Homme; oder im Naturhistorischen Museum Wien, das im 19. Jahrhundert spiegelbildlich zum Kunsthistorischen Museum erbaut wurde, um die spektakulären Sammlungen des österreichischen Kaiserhauses zu beherbergen.

So stieß ich vergangene Woche während eines Kurzbesuchs in Berlin eher zufällig auf die so genannten Nass-Sammlungen des dortigen Museums für Naturkunde. In diesem einzigartigen "Archiv des Lebens" werden "Objekte aus allen Tiergruppen in einem Gemisch aus 70% Alkohol und 30% Wasser aufbewahrt." "Eine Million Präparate in 80 Tonnen Alkohol, reihen sich in 233.000 Gläsern auf Regalen von insgesamt 12,6 km Länge." -- so steht es zu lesen. Doch auch jenseits aller Superlative könnte das hochästhetische, perfekt inszenierte Ensemble neben so mancher künstlerischen Installation, nicht nur von Damien Hirst, bestehen. Und so fügte es sich auf diesem Berlin-Trip unverhofft in eine Reihe weiterer Präsentationen, die sich dem Thema Archiv -- diesmal auf künstlerische Weise -- näherten.

Im Rahmen des "Forum Expanded", das sich seit nun mehr zehn Jahren als fester Bestandteil der Berlinale filmischen Formen jenseits des konventionellen Leinwandformats widmet, fand in der Akademie der Künste die Ausstellung "To the Sound of the Closing Door" statt. Gleich zwei Arbeiten setzen sich hier ausdrücklich mit historischen Bildarchiven auseinander: So projiziert der kanadische Altmeister des Experimentalfilms Michael Snow in seiner Installation "TAUT" eine in Toronto archivierte Sammlung von Nachrichtenfotografien -- während er sie von Hand durchblättert -- in einen dreidimensionalen Klassenraum und eröffnet auf diese Weise ein besonderes Spannungsfeld zwischen Künstler, Betrachter und einer Gruppe fiktiver Schüler angesichts der erstmals ans Licht tretenden Bilder.

Komplexer und deutlich subtiler mutet dagegen die Zweikanal-Videoarbeit "Wie soll man das nennen, was ich vermisse?" von Antje Ehmann und Jan Ralske an. Die Arbeit ist eine zärtliche Hommage an den erst kürzlich verstorbenen Filmemacher Harun Farocki, der mit seinen Filmen seit vielen Jahren an einem Bildarchiv filmischer Topoi gearbeitet hat. Diesen motivgeschichtlichen Ansatz wenden die Autoren nun auf Farockis eigenes Werk an und schaffen, ausgehend vom Motiv der Tür mit all ihren Konnotationen von Öffnen/Schließen, Trennen/Verbinden, Einschließen/Befreien, über die Schwelle treten etc., eine dichte, berührende Kompilation.

Mit einer ganz anderen Form der Auseinandersetzung mit dem Archiv und der Geschichtsschreibung einer Institution konfrontiert uns die mexikanische Künstlerin Mariana Castillo Deball. Ihr Projekt "Parergon" ist derzeit noch in der historischen Halle des Hamburger Bahnhofs zu sehen. Die raumgreifende Choreografie versammelt Objekte unterschiedlichster Art -- von der Totenmaske Max Liebermanns bis zur Fahrkartensammlung in einem Fahrplanständer -- anhand derer sie vergessene "Nebengeschichten" aus der Geschichte der Nationalgalerie erzählt. Neben den skulpturalen Objekten im Raum werden die oft verwickelten Erzählstränge via einer Zeitung und einer Art Hörstück aus zum Teil skurril-poetischen Dokumenten und Interviews präsentiert.

So erfahren wir zum Beispiel von den wiederholten Diebstählen des bis heute verschollenen Gemäldes "Der Arme Poet" von Carl Spitzweg -- einem der in Deutschland bekanntesten und beliebtesten Gemälde überhaupt. Von der Zeit des Hamburger Bahnhofs als Verkehrs- und Baumuseum. Von den zweifelhaften Geschäften zwischen dem Deutschen und dem Osmanischen Reich, die unter anderem dazu führten, dass sowohl das Bild "Persischer Teppichhändler auf der Straße" des türkischen Archäologen und Malers Osman Hamdy Bey wie auch die berühmte Mschatta-Fassade eines im 8. Jahrhundert im heutigen Jordanien erbauten Palastes heute zu den Sammlungen der Berliner Museen gehören. Und nicht zuletzt von den Recherchen der Künstlerin und ihren eigenen Ausgrabungen in den Untiefen der Archive der Berliner Museen.

Die Ausstellung im Hamburger Bahnhof wurde der Künstlerin als Teil des Preises der Nationalgalerie für junge Kunst ausgerichtet, den sie 2013 gewann. Mit ihrem überraschenden Projekt hat Mariana Castillo Deball den Spieß jedoch wieder umgedreht und dem Museum, das einer derart weitreichenden, ebenso spannenden wie künstlerisch überzeugenden Reflexion über die eigene Identität selbst kaum imstande wäre, ein ungleich größeres Geschenk gemacht.