In New York erlebte Erró Konsumwahn und Pop Art, in Paris kam er mit den legendären Protagonisten des Dada und des Surrealismus zusammen. Im Interview berichtet Erró-Expertin Danielle Kvaran, wie die unterschiedlichen Einflüsse in Errós Lebenswerk zusammenflossen.

Danielle Kvaran ist Herrscherin über Errós Œuvre und Chronistin seines Lebens. Seit vielen Jahren betreut sie die 4.000 Werke umfassende Sammlung des Kunstmuseums Reykjavík, kuratiert Erró-Ausstellungen und gibt Publikationen zu seinem Werk und seinem Leben heraus, darunter „Erró: Chronologie. L’art et la vie“. Wahrscheinlich kennt niemand seine Arbeit und den Menschen Guðmundur Guðmundsson – so der bürgerliche Name des isländischen Künstlers – so gut wie sie.

Schirn Magazin: Frau Kvaran, Sie arbeiten sehr eng mit Erró zusammen. Wie würden Sie ihn beschreiben?

Danielle Kvaran: Ich kenne ihn schon lange und habe seine Karriere mitverfolgen dürfen. Er ist vor allem enthusiastisch und voller Energie – er arbeitet von früh morgens bis in den späten Abend hinein. Außerdem ist er absolut großzügig im Umgang mit Zeit, Wissen und Geld. In Island hat er einen Preis für Künstler ausgelobt, den er ganz allein finanziert. Die Tür zu seinem Studio steht immer offen, für Studenten der Kunstgeschichte genauso wie für junge Kollegen, die seinen Rat suchen. Darüber hinaus hat er ein außergewöhnliches visuelles Gedächtnis und einen großartigen Sinn für Humor.

SM: Erró wuchs auf einem kleinen Bauernhof an der Südküste Islands auf. Waren Sie dort?

DK: Ja, ich war zusammen mit Erró in Kirkjubæjarklaustur, dem kleinen Dorf, in dem er aufwuchs, und habe alle Geschichten, die er mir zu diesem Ort und zu seiner Kindheit erzählt hat, regelrecht in mich aufgesogen. Man lebt dort ein rustikales Leben in einer wilden Landschaft voller Gletscher, Seen, Wasserfälle, Wiesen, Felsen, Lavafelder und schwarzer Sandstrände. Die Gegend hat einen starken Bezug zu den Isländer-Sagas und zu übernatürlichen Phänomenen wie Geistern, Elfen und Trollen. Der Hof der Eltern war sehr abgelegen, aber durch die vielen Besucher dennoch belebt. Erró wuchs dort zusammen mit drei Halbgeschwistern, seinem Stiefvater und seiner Mutter sehr behütet auf. Seine Familie erkannte sein künstlerisches Talent früh und unterstütze ihn. In Kirkjubæjarklaustur begegnete Erró auch dem zu dieser Zeit berühmtesten isländischen Maler, Johannes Sveinsson Kjarval, der dort oft den Sommer verbrachte. Er inspirierte Erró und schenkte ihm Material zum Malen.

SM: Jetzt ist Erró der bekannteste lebende Künstler Islands. Seit 1958 lebt er allerdings in Paris.

DK: Erró verließ Island schon 1952, im Alter von 20 Jahren, um seine künstlerische Ausbildung in Oslo, Ravenna und Florenz fortzusetzen. Dass er sich schließlich in Paris niederließ, war im Grunde naheliegend. Auch wenn die Stadt zu dieser Zeit angesichts der Vorherrschaft New Yorks schon nicht mehr als Zentrum der Kunstwelt betrachtet werden konnte, blieb sie doch ein lebendiger Ort, der Künstler aus aller Welt anzog – Treffpunkt einer jungen Künstlergeneration und der Pioniere der älteren Avantgarde-Bewegungen.

SM: Welche der Kunstrichtungen, mit denen Erró in Europa in Kontakt kam, haben ihn besonders beeinflusst?

DK: Als junger Student war Erró von dem dramatisch-expressionistischen Stil fasziniert, der ihm bei El Greco, Hieronymus Bosch oder Edvard Munch begegnete. Auch der kraftvolle deutsche Expressionismus machte Eindruck auf ihn – das sieht man deutlich in den Arbeiten, die bis in die frühen 1960er Jahre hinein entstanden sind. Sie zeigen dunkle, albtraumartige Visionen. Mit den Surrealisten teilte Erró den Glauben, man müsse seine Fantasie und Gefühle befreien und Normen und Konventionen abstreifen, um seine künstlerische Unabhängigkeit zu bewahren. Die freie Assoziation war eine entscheidende Methode für die Entwicklung seines Stils und manifestierte sich in seiner Collage-Praxis – der Schlüsselmethode für sein gesamtes Werk.

SM: 1962 schrieb Erró das Manifest „Mécanismo“. Welche Vision hatte er?

DK: Erró trug eine Reihe von Definitionen zusammen, um Formen von Kunst und Leben zu beschreiben, die in irgendeiner Weise mit Maschinen zu tun hatten. Er suchte Manifestationen der Maschine in der Kunstgeschichte, zum Beispiel im Kubismus und in kinetischen Konstruktionen. Er war zu dieser Zeit besessen von der „Mechanisierung“ des Lebens und der Gesellschaft, der „Robotisierung“ des Menschen. Zwischen 1959 und 1963 nutzte er alle möglichen Materialien, Objekte und Publikationen in diesem Kontext, die er auf Pariser Flohmärkten, im Müll oder in kleinen Läden fand und machte daraus „Mechacollagen“, „Mechapoems“ oder „Mechamasks“ und kreierte das Set für den Experimentalfilm „Concerto mécanique pour la folie ou la Folle Mécamorphose“ von Eric Duvivier. Seiner ersten Ausstellung in Paris 1960 gab Erró den Titel „Mécamorphoses“.

SM: In den 1960er Jahren verbrachte Erró einige Zeit in New York. Seine Begegnung mit der amerikanischen Pop Art scheint seine künstlerische Entwicklung geprägt zu haben.

DK: Als Erró 1963 in New York landete, kannte er durch Freunde bereits einige Werke der zeitgenössischen amerikanischen Kunst, auch Pop Art. In New York erlebte er das explosionsartige Wachstum der Konsumgesellschaft und die nie zuvor dagewesene Flut einer von der Massenkultur inspirierten Bildwelt. Das war der Punkt, an dem er aufgab, Motive selbst zu erfinden und stattdessen begann, Collagen zu arrangieren, sie auf seine Leinwände zu projizieren und zu malen. Er gab die expressive Sprache auf, die seine vorangehenden Arbeiten charakterisiert hatte, und ging zu einer Art präzisen, unpersönlichen Komposition über, die die chromatischen Eigenschaften und die visuelle Sprache der Massenmedien in ihr Extrem überführte. In New York fing Erró auch an, Comicfiguren zu einem festen Bestandteil seiner Collagen und Gemälde zu machen.

SM: Erró entwickelte einen speziellen Bildtypus – die „Scapes”, die auch in der SCHIRN zu sehen sind. Hat er andere Künstler damit beeinflusst?

DK: Die „Scapes“ sind metaphorische Landschaften, in denen Varianten des gleichen Motivs so angeordnet und organisiert sind, dass sie einen bestimmten Blick darauf zulassen. Sowohl der Begriff als auch das Konzept und das fertige Produkt „Scape“ sind eine absolute Erró-Besonderheit. Es ist nicht einfach zu sagen, ob Erró andere Künstler damit beeinflusst hat. Die Verwendung von Comic Strips und Comicfiguren allerdings hatte einen Einfluss auf den Ansatz der Freien Figuration [frz. Figuration Libre] in den frühen 1980er Jahren.

SM: 1989 spendete Erró der Stadt Reykjavík einen großen Teil seines Werks. Welches Verhältnis hat er zu Island und was bedeutete die Spende für die Kunstwelt des Landes?

DK: Er verließ sein Heimatland zwar früh, bewahrte aber eine enge Beziehung zu Island – seine großzügige Spende bestätigte das. Sie enthielt nicht nur seine eigenen Arbeiten, sondern auch viele Werke von Künstler-Kollegen. Er brachte so das Flair der internationalen Kunstwelt in das abgelegene Island. Darüber hinaus initiierte er über die Jahre hinweg auch Ausstellungen, etwa die fantastische Schau später Werke von Picasso. Das war ein echtes Kunsterlebnis und ermöglichte, die isländische Kunstszene in einem internationalen Kontext wahrzunehmen.

SM: Wird Errós Œuvre von Kunsthistorikern und Kritikern unterschätzt?

DK: Erró gehört nicht zu den führenden Künstlern der kommerziellen Szene. Sein Werk ist vor allem in Europa bekannt, wo man seinen Namen im Kontext der Erneuerung der figürlichen Malerei kennt und mit seinen narrativen Collage-Gemälden verknüpft. Auch im Kontext von Happenings und Experimentalfilm ist Erró ein Begriff. Als Teil der europäischen Avantgarde mit Bezug zum Surrealismus, zur Narrativen Figuration und zur Pop Art entdecken ihn europäische Kunsthistoriker und Kritiker gerade ­­in neueren Publikationen wieder. Er ist in Gruppenausstellungen zu sehen und wichtige europäische Institutionen widmen ihm Einzelausstellungen – wie jetzt die SCHIRN.