Durch einen Luftschacht in einem New Yorker Loft fotografierte Merry Alpern in den 1990er-Jahren unbemerkt Manager beim Pinkeln, Koksen und beim Sex. Wir trafen die Künstlerin anlässlich der Gruppenausstellung „Privat“ in New York.

Merry Alpern wirkt nicht wie jemand, der mit dem Objektiv gnadenlos in die Privatsphäre von Menschen eindringt. Sie ist höflich und zuvorkommend, spricht ruhig, die Stimme klingt sanft. Ihre „Dirty Windows"-Serie, aus der jetzt einige Bilder in der Schirn zu sehen sind, lässt eine wesentlich radikalere Persönlichkeit hinter der Kamera vermuten. Auf den intimen Schwarzweiß-Abzügen sind Szenen aus der Toilette eines illegalen Stripclubs zu sehen. Gleich um die Ecke ihrer Wohnung in Brooklyn, wo Alpern mit ihrem Mann und ihrer 12 Jahre alten Tochter lebt und arbeitet, sprachen wir in ihrem japanischen Lieblingsrestaurant über die legendäre Fotostrecke. Bei Sushi und grünem Tee lüftete sie ein lange gehütetes Geheimnis.

Schirn Magazin: Merry, wie hast Du dieses Fenster entdeckt, hinter dem sich all diese pikanten Szenen abspielten?

Merry Alpern: Ein Freund von mir hatte damals ein Loft in Downtown Manhattan, in der Wallstreet-Gegend. Da feierten wir jede Menge Partys. Eines Tages kam er zu mir und sagte, er müsse mir etwas zeigen. Er führte mich in ein kleines Zimmer. Durch eine Art Luftschacht konnte ich vier bis fünf Meter weiter unten durch ein Fenster sehen. Plötzlich tauchte da ein Körper auf, dann eine Hand, die irgendetwas mit Klopapier machte, und ich dachte sofort: Das will ich fotografieren. Der Blick da runter erinnerte mich an alte Peepshows.

SM: Also hast Du Deine Kamera geholt.

MA: Anfangs wollte ich nur ein richtig gutes Foto machen. Dann wurden acht Monate daraus, in denen ich fast jeden Abend da saß und Bilder machte. Ich trug schwarze Kleidung und saß im Dunkeln, damit mich niemand sehen konnte. Und hatte wahnsinnige Angst erwischt zu werden. Ich wurde regelrecht paranoid, dachte die Leute würden mich dabei beobachten wie ich sie beobachtete. Vor allem wenn der Besitzer da rein kam, um Geld zu zählen, dachte ich: Gleich sieht er mich und bringt mich um. Das hat mich wirklich vereinnahmt. Manchmal waren auch Freunde dabei, um mir Gesellschaft zu leisten.

SM: Zu was gehörte diese Toilette?

MA: Zu einem illegalen Stripclub direkt gegenüber eines Wallstreet-Unternehmens. Ich habe bisher noch niemandem den Namen dieser Firma verraten, aber was soll's, es ist ja schon so lange her: Es war Goldman Sachs. Einige von den in der Hierarchie etwas weiter unten angesiedelten Manager-Typen gingen nach Feierabend rüber in den Club. Manchmal begegnete ich einem von ihnen auf der Treppe, wir hatten ja den gleichen Weg. Dann fragten sie mich, ob ich an diesem Abend arbeiten würde. Sie dachten, ich wäre eine der Tänzerinnen. Einmal ging ich sogar rein. Alles wirkte so amateurhaft! Ein paar Klappstühle standen um einen Podest herum. Die Mädchen lächelten und fragten, ob ich mit ihnen tanzen wollte. 

SM: Was hat Dich an diesem Projekt so fasziniert? Die Rolle der Voyeurin?

MA: Fotoprojekte haben ja meist eine ganz persönliche Motivation. Ich war damals Single, hatte gerade eine Trennung hinter mir. Ich wollte einfach heiraten und Kinder bekommen, das schien zu dieser Zeit aber völlig aussichtslos. Ich hatte ständig Dates, aber es kam einfach nichts dabei heraus. Mich interessierte die Art von Beziehung zwischen diesen Menschen. Es waren ja Prostituierte und Kunden, trotzdem standen sie in diesem Moment in einer Beziehung zueinander. Bei einigen der Männer konnte ich auch sehen, dass sie Eheringe trugen. Sie kamen so gegen 17 Uhr nach Feierabend und gingen spätestes um 21 Uhr, wahrscheinlich nachhause zu ihrer Familie. Das machte mich neugierig. Und dann faszinierte mich natürlich diese Stimmung: Ich saß im Dunkeln und wartete auf die Menschen wie ein Jäger auf seine Beute. Das genoss ich richtig.

SM: Es war sicherlich schwer zu entscheiden, wann das Projekt zu Ende war.

MA: Wahrscheinlich würde ich da immer noch sitzen. Aber nach acht Monaten rief mich mein Freund an, dem das Loft gehörte, lachte und sagte: „Ich hoffe, Du hast Deine Bilder, Baby, sie sind weg!" Die Polizei war ihnen auf die Schliche gekommen. Ich habe in dieser Toilette so unglaublich viel Kokain gesehen, wahrscheinlich war es eine Drogenrazzia. Jedenfalls wurde der Laden geschlossen. Das war's. Kurze Zeit später war ich noch einmal dort. Ich sagte einfach, ich sei auf der Suche nach einem Loft, also ließ man mich rein. Ich rannte gleich zur Toilette. Und die war so winzig! Das war auch der Grund, warum ich so viel gesehen hatte. Die Leute mussten sich buchstäblich gegen dieses Fenster pressen.

SM: Wie waren die Reaktionen, als Du die Serie veröffentlicht hast?

MA: Sehr kontrovers. Ich hatte mich gerade für ein staatliches Kunst-Stipendium, den National Endowment for the Arts Grant, beworben. Eines Abends rief mich plötzlich jemand an und sagte, ich sei zwar für die Förderung ausgewählt worden, die Entscheidung sei aber von offizieller Seite aus gekippt worden und ich könnte alles morgen in der Zeitung lesen. Tatsächlich war die Geschichte am nächsten Tag in der Washington Post. Das Stipendium hatte ich verloren, aber das brachte mir natürlich viel Publicity. Galerien und Journalisten riefen an, alle wollten die Bilder sehen. Und kaufen.

SM: Hat diese intensive Erfahrung von „Dirty Windows" Deine weitere künstlerische Entwicklung beeinflusst?

MA: Eher indirekt. Jeder wollte wissen, was denn als nächstes käme. Ich hatte keine Ahnung und ging erstmal shoppen, einfach um mich abzulenken. Irgendwann nahm ich eine Kamera mit, versteckte sie in meiner Handtasche und filmte. Ich entnahm Stills aus den Filmen, daraus wurde meine nächste große Arbeit „Shopping". Und die erregte noch mehr Aufsehen. Obwohl ich immer darauf geachtet habe, dass niemand auf den Bildern erkannt werden kann. Ich glaube, dass sich die Leute mit diesen normalen Frauen, die da kramten und anprobierten, eher identifizieren konnten. Diese Leute der „Dirty Windows"-Serie waren ja „die anderen" gewesen. Plötzlich war es ganz schrecklich, was ich tat.

SM: Die Vorstellung von Privatsphäre hat sich heute, in Zeiten von Facebook und Twitter, stark verändert. Auch damit beschäftigt sich „Privat". Wie erlebst Du das?

MA: Ich persönlich schätze Privatsphäre sehr und stehe auch überhaupt nicht gerne im Mittelpunkt. Deshalb habe ich auch keine Webseite, obwohl das natürlich besser für mich als Künstlerin wäre. Ich sollte auch alle mit meinen Tweets unterhalten, aber ich bin einfach nicht so. Ich war eben schon immer eher schüchtern.