Angela Lampe, Kuratorin am Centre Pompidou in Paris, spricht im Interview über die von ihr kuratierte Ausstellung „Edvard Munch. Der moderne Blick“.

Schirn Magazin: Wie entstand die Idee zu dieser außergewöhnlichen Ausstellung ?

Angela Lampe: Ich halte das Spätwerk von Munch schon seit langer Zeit für unterbewertet. Das geht zurück auf die Zeit meiner Doktorarbeit. Ich habe über die nordische Kunst und in diesem Zusammenhang auch über Munch promoviert und das Spätwerk Munchs kennen gelernt. Ich habe es immer als sehr schade empfunden, dass dieses Werk weder in der der Forschung, noch in der Ausstellungspraxis eine größere Rolle spielt. Es gab bisher wenige Projekte mit dem Schwerpunkt im 20. Jahrhundert.

SM: Wie verändert die Ausstellung unseren Blick auf diesen populären Künstler?

AL: Munch stirbt erst 1944, drei Viertel seines Werkes realisierte er also im 20. Jahrhundert. Und in diesem Teil seines Werks bekommt man einen Schlüssel für eine andere Betrachtung Edvard Munchs. Edvard Munch wird als Künstler des 19. Jahrhunderts betrachtet, als Symbolist, jemand der in sich gekehrt ist, depressiv, Nervenprobleme hat. Wenn man aber sein Spätwerk betrachtet, dann erkennt man einen anderen Künstler. Er hat sich für modernes Theater, für Arbeiter, für soziale Themen und vor allen Dingen für Fotografie und Film interessiert. Und das ist -- vor allem die Fotografie -- ein wichtiger Aspekt dieser Ausstellung.

SM: Welche Themen behandelt die Ausstellung ?

AL: Das Thema der Ausstellung ist, wie der Titel schon sagt, „Der moderne Blick". Wir zeigen in 10 Kapiteln, welche Aspekte diese Modernität Edvard Munchs haben kann. Es fängt an mit dem Thema der Reproduzierbarkeit, der Wiederholung derselben Motive, die bei Munch sehr stark ausgeprägt ist. Während seines ganzen Lebens kommt er immer wieder auf Motive wie beispielsweise den „Vampir" zurück. Es geht außerdem um die Fotografie, die Munch ab 1902 selbst praktiziert. Aber auch die Fotografie die er in der illustrierten Presse sieht, die Anfang des 20. Jahrhunderts einen großen Aufschwung erlebt. Man erkennt, wie er neue Perspektiven entwickelt, wie er das Bild dynamischer aufbaut. Und bei dieser Dynamik kommt der Film ins Spiel.

SM: Wie wirkt sich der frühe Film auf die Kunst Edvard Munchs aus?

AL: Munch war begeisterter Kinogänger, und die Filme die er sieht, inspirieren ihn zu einer neuen Bildkomposition. Vor allem zu einem aus dem Bild heraustretenden Motiv. Man hat den Eindruck, dass ein galoppierendes Pferd, das in der Ausstellung zu sehen ist, auf den Besucher zu läuft. Und die Ausstellung zeigt auch, wie Munch sich für ganz andere Themen interessiert als die uns längst bekannten, wie Tod, Liebe oder Angst. Er interessiert sich für die Arbeiterbewegung, für naturwissenschaftliche Erfindungen, für Magnetwellen, für Elektrizität. Davon liest man auch in seinen Schriften. Er ist fasziniert von den ersten Röntgenbildern und vom modernen Theater. Diese Ausstellung zeigt diese unterschiedlichen Aspekte in 10 Kapiteln. Jedes dieser Kapitel ist strukturiert wie eine kleine Dossierausstellung und versucht die Facetten von Munchs Modernität zu ergründen.

SM: Worin liegt für Sie die Modernität des Künstlers Edvard Munch?

AL: Munch ist modern, weil er sich für die Themen seiner Zeit interessiert hat. Das wurde bisher kaum beachtet. Munch war ein großer Zeitungsleser. Es gibt viele Zeugenaussagen, die berichten, dass in seinem Atelier und in seiner Wohnung immer etliche Zeitungen lagen. Er war ein begeisterter Kinogänger. Und Munch interessierte sich für ästhetische Diskussionen. Gerade im Rahmen der Fotografie haben wir herausgefunden, dass er Ende der 20er-Jahre an einer Kunstdebatte teilnahm. Munch war nicht nur der zurückhaltende Künstler, der angsterfüllt und depressiv in seinem Atelier malte. Er war jemand, der sich dafür interessierte, was vor seiner Haustür passierte.