Das SCHIRN MAG im Gespräch mit der Kulturwissenschaftlerin und Autorin Dr. Mithu Sanyal. Was sie zu ihrem Romandebüt „Identitti“ inspiriert hat, welche Fehlannahmen und Leerstellen der deutsche Blick auf Indien bereithält und welches Werk sie von Gauri Gill besonders schätzt, jetzt im ersten Teil des Interviews.

In ihren Sachbüchern beschäftigt sich die Kulturwissenschaftlerin und Autorin Mithu Sanyal mit Sexismus, Vergewaltigungen und der Kulturgeschichte der Vagina und auch in ihrem vielfach bejubelten Romandebüt „Identitti”, das 2021 u.a. auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises war, behandelt sie feministische Themen. Doch stärker noch als die feministische Theorie ist ihr Roman „Identitti” von Diskursen des Postkolonialismus geprägt, die sie auf fundierte und zugleich humorvolle Weise mit Erfahrungen der indischen Diaspora in Deutschland verknüpft. Ausgangspunkt der Romanhandlung ist ein Skandal: Die Professorin für Postkolonialismus, Dr. Saraswati, die sich als Person of Color inszeniert und an vorderster Front identitätspolitischer Diskurse steht, wird als weiße deutsche Frau aus Düsseldorf entlarvt – mit weitreichenden Folgen für ihre Studierenden.  Auch die Künstlerin Gauri Gill widmet sich in Werken, wie „The Americans”, dem Thema der indischen Diaspora. Gill hinterfragt kolonialistisch geprägte Repräsentationsfomen und bietet in ihrem vielseitigen Oeuvre insbesondere den Frauen und marginalisierten Bevölkerungsgruppen Indiens eine neue Sichtbarkeit und Möglichkeit zur Selbstdarstellung. Wir haben mit Mithu Sanyal über die indische Diaspora und GAURI GILL. ACTS OF RESISTANCE AND REPAIR gesprochen.

Mithu Sanyal, Foto: Guido Schiefer, Image via taz.de

Mithu Sanyal, Sie werden als feministische Stimme in Deutschland und spätestens seit Ihrem postkolonialismuskritischen Buch „Identitti” auch als wichtige Stimme der indischen Diaspora in Deutschland wahrgenommen. Was genau bedeutet das für Sie?

Feminismus ist das Fenster, durch das ich politisiert worden bin, deswegen fühle ich mich damit absolut richtig beschrieben. Wobei es natürlich nicht den einen Feminismus gibt, sondern ganz viele unterschiedliche Feminismen. Wenn ich sage, ich bin Feministin, meine ich damit nicht, dass Geschlecht die einzige oder allerwichtigste Diskriminierungskategorie ist, aber dass die Art, wie die Welt uns behandelt, eben nicht nur damit verbunden ist, wie wir sind, sondern auch an ganz viele Identitätsmarker geknüpft ist – sei es Geschlecht, sei es race, sei es class, Einkommen, Herkunftsfamilie oder Gesundheit. Ich würde sagen, die größte Diskriminierungskategorie unserer Gesellschaft ist mit Sicherheit Gesundheit, also sowohl Krankheit als auch die Ablismus und so weiter. Und das gucken wir uns viel weniger an als die anderen Kategorien.

Ganz lange haben wir uns race aber auch nicht angeschaut. Deshalb freut es mich so, als „Stimme der indischen Diaspora“ beschrieben zu werden. Doch auch das ist eine sehr unterschiedliche Erfahrung sowie Frausein eine unterschiedliche Erfahrung ist: Also du machst andere Erfahrungen, weil du eine Frau bist als ich, aber auch als meine Mutter. Alle machen unterschiedliche Erfahrungen, aber es gibt bestimmte Dinge, die Ähnlichkeiten aufweisen. Und es ist wichtig, sich das anschauen zu können, um nicht zu denken, dass man komisch ist. Und race war so lange das Unsichtbare in meinem Leben. Ich habe z.B.  gerade in London einen Workshop gegeben zu meinem Roman an der SOAS, der School of Oriental and African Studies an der London University. Eine Studentin sagte dort zu mir, sie habe sich sehr mit Nivedita, der Hauptfigur von „Identitti“, identifiziert und vor allem mit Niveditas Wunsch nach belonging. Sie erzählte mir, wie wichtig es für sie war, die schwarze Community zu „appreciaten“, also wertzuschätzen und damit auch einen Teil von sich selbst zu feiern. Das hört sich so banal an, aber eben das ist etwas, was in meinem Leben lange gefehlt hat. Und das ist das, was Nivedita antreibt – das Thema des Buchs ist nicht wie alle denken appropriation sondern appreciation, Wertschätzung! 

Also Nivedita sagt, sie ist natürlich gegen Rassismus aber sie möchte race auch genießen können und damit meint sie eben „belonging” in dem Sinn, in dem die Philosophin bell hooks das verwendet. Also hooks beschreibt in ihrem gleichnamigen Buch, was es für Menschen bedeutet, wenn sie keinen Ort Heimat nennen können. Und Nivedita gehört zu diesen Menschen. Es gibt ja dieses Zitat von Goethe „Kinder brauchen Wurzeln und Flügel” –  das ist die Theorie, die ich in dem Buch habe: Wenn dir Wurzeln fehlen, ist es schwieriger Flügel zu entwickeln. Alle Freundinnen von Nivedita gehen an Universitäten in andere Städte. Nur sie schafft es gerade einmal nach Düsseldorf – das ist so nah an ihrer Heimatstadt Essen da könnte sie theoretisch auch pendeln. Und der Grund dafür ist, dass sie sich so wurzellos fühlt, dass sie Angst hat, wenn sie noch weiter weggeht, wird sie einfach davon geweht. Und das ändert sich im Laufe des Buches, so dass sie sich am Ende überlegt, nach Oxford zu gehen. Und das hätte sie vorher nicht geschafft. Niveditas Cousine Priti ist in England aufgewachsen, in Birmingham und dort sind Menschen aus dem indischen Subkontinent einfach die größte Migrationsgruppe. Das heißt, es gibt ein gewisses kulturelles Wissen über uns – es gibt auch viel mehr offenen Rassismus. In England gucken mich Leute an und denken „ah, she’s asian”, das ist auch so irre, dass für Engländer*innen Indien Asien ist, für Deutsche aber eher Japan oder China. Noch nicht einmal bei den Schubladen sind wir uns einig. Anyway: Aber immerhin werde ich in der UK irgendwie erkannt, natürlich nicht als Wesen erkannt, aber ich werde richtig kategorisiert, während in Deutschland immer die Frage gestellt wird „wo kommst du her?”. Und dann gehen sie jedes Land auf der Welt durch, bevor sie auf Indien kommen. Und das ist ganz spannend, dass dieses Gefühl zur indischen Diaspora gehören zu wollen auch im Sinne von richtig identifiziert werden, ohne darauf festgeschrieben zu werden und nur das alleine zu sein, verstanden werden kann. Denn ich bin natürlich noch alles Mögliche andere in meiner Familie, meine Mutter kommt z.B. aus Polen und das ist auch wichtig. Und ich bin Mutter und Schriftstellerin und und und…

Mithu Sanyal: Identitti, Hanser Verlag, München 2021

Sie haben zuvor vorrangig Sachbücher geschrieben und jetzt erstmals einen Roman. Was war der Auslöser dafür, das Buch gerade jetzt zu schreiben?

Es tatsächlich so: Ich habe immer schon Romane schreiben wollen, doch der Buchmarkt wollte mich nicht (*lacht*). Als meine Agentin „Identitti“ angeboten hatte, war die Reaktion der Verlage: „Das ist super, aber das werden wir leider nicht verkaufen können.” Und dann hat Hanser sich getraut, das zu machen und es wurde sofort ein Spiegel Bestseller. Was auch interessant ist, da man merkt, dass der Buchmarkt natürlich auch den Leser*innen hinterherhinkt. Aber umgekehrt war es auch so, dass wir so lange über diese Themen in Deutschland nicht gesprochen haben. Natürlich, die Leute an den Unis schon oder in antirassistischen Aktivist*innen-Gruppen, aber im Mainstream wurde darüber kaum gesprochen. „Belonging“, Postkolonialismus, Diaspora, das sind ja wirklich Themen, die erst in den letzten 5,6 Jahren breit diskutiert wurden. Ich hatte deshalb auch selbst Schwierigkeiten darüber zu reden, weil eine geteilte Sprache gefehlt hat.

Die andere Sache war, dass ich ursprünglich angefangen hatte, die Geschichte zwischen Nivedita und ihrer Cousine, Priti, zu erzählen, die wie gesagt aus einer indischen Familie in Birmingham stammt und Nivedita immer „Coconut” nennt. Doch das funktionierte nicht, denn es ist unmöglich Identität zu beweisen. Das heißt, die Geschichte, der Konflikt, drehte sich immer im Kreis. Und dann kam dieser Fall in Amerika von Rachel Dolezal, der schwarzen Bürgerrrechtsaktivistin und Universitätsdozentin, bei der dann rauskam, dass sie in Wirklichkeit weiß ist. Und ich dachte: Wie toll, ich kann so einen Fall nehmen und nach Deutschland transponieren – ein komplett anderer Fall natürlich, das ist nicht die Geschichte von Rachel Dolezal, überhaupt nicht, doch so habe ich einen Katalysator, um Niveditas Geschichte erzählen zu können! Mit diesem Katalysator funktionierte es dann, weil sie sich von der, an Dolezal angelehnten, Romanfigur Dr. Saraswati abstoßen kann. Es gibt nichts wesenhaft Identisches, sondern Identität entsteht immer in Kommunikation mit der Welt. Man braucht halt ein starkes kommunikatives Gegenüber darin. Deshalb markierte das den Zeitpunkt, zu dem es erzählt werden konnte. Zugleich war's aber auch Glück, dass plötzlich alle sagten: „Ohja, Identitätspolitik!" Mit „Identitti“ als Titel dachte ich ursprünglich, „Titti”, also Brüste, sind das Interessante, sind sexy und dann nehme ich sowas schön staubig Altes wie Identitätspolitik, was keinen Menschen interessiert und es war halt umgekehrt: Alle sind auf Identitätspolitik gesprungen! 

Sie haben gerade davon gesprochen, dass die gemeinsame Sprache noch vor einiger Zeit gefehlt hat, um sich mit diesen Identitätsfragen auseinanderzusetzen. In „Identitti“ begegnet man Autor*innen wie bell hooks und erhält einen Eindruck davon, wie wichtig bestimmte Stimmen für das Herausbilden einer solchen Sprache sind. Würden Sie neben ihr noch andere Autor*innen nennen, die Wegbereiter*innen für Sie waren, um dieses Buch schreiben zu können?

Ja, super viele! Also Prof. Dr. Saraswati  ist prinzipiell aus ganz vielen Leuten zusammengebastelt, aber die Art wie sie auftritt, also diese Art „ich bin Glamour und Grande Dame“, das ist sehr Gayatri Chakravorti Spivak.  Aber auch Leute wie  Nivedita Prassad oder Nikita Dhawan, die ja beide in Deutschland leben und an Universitäten lehren waren inspirierend. Die sind natürlich nicht fake, überhaupt nicht, aber ihre Forschung, ihre Texte und wie sie sprechen und auftreten, sind in die Figur der Saraswati eingeflossen. Und dann gibt es natürlich die ganzen Bücher: Hanif Kureishis Roman „Der Buddha aus der Vorstadt” ist das Buch, das ich gelesen hatte und dachte: Genau das ist es, was schreiben will! Das war für mich der erste Roman, der mich sehr in meiner Lebensrealität abgeholt hat, obwohl nichts davon in meinem Leben so war – natürlich nicht! Ich bin nicht in London aufgewachsen, ich bin kein bisexueller Mann und auch sonst war alles anders und trotzdem habe ich darin Dinge gefunden, die ich in der deutschsprachigen Literatur damals nicht finden konnte. Also, es gibt ganz viel, was da zusammengekommen ist. Wir erfinden ja nichts neu und selbst, sondern sind nur eine weitere Stimme, die das Gespräch weiterführt. Deshalb ist es auch so wichtig, dass es andere Stimmen gibt. Denn wenn es nur wenig andere Stimmen gibt, dann ist das Gespräch, an dem du dich beteiligst, so klein. Und je mehr andere Stimmen es gibt, desto größer und komplexer kann auch dein eigener Anteil werden.

Hanif Kureishi, Der Buddha aus der Vorstadt, Fischer Verlag, 2014, Image via lovelybooks.de

Rachel Dolezal in Spokane im Mai 2015, Image via wikipedia.org

Wie nehmen Sie den Blick von außen auf Indien wahr, insbesondere in Deutschland?

Das ist total spannend, denn auf der einen Seite haben wir ein super positives Indienbild in Deutschland. Also wir haben ganz wenig Wissen über Indien, aber viele positive Vorurteile, angefangen bei: Ayurveda, Yoga; Kamasutra; you name it. Als der indische Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore in den 20er-Jahren nach Deutschland gekommen ist, wurde er wie der weise Mann aus dem Orient behandelt und in einer Sänfte durch Deutschland getragen.

Gleichzeitig sind wir, was die Politik angeht, höflich gesagt sehr unkritisch. Annalena Baerbock war gerade in Indien und hat ein wenig in Bezug auf die Nähe zu Russland gemeckert, aber den Umstand, dass in Indien gerade eine hindu-nationalistische Partei an der Macht ist, die die Muslime im Land krass diskriminiert, das hat sie nicht einmal mit einem Wort erwähnt. Ich werde immer mal wieder zu Kongressen eingeladen, wo es dann zum Beispiel religionsvergleichend um Sexualität geht. Und Religionsvergleichend bedeutet für uns in der Regel Christentum, Islam und Judentum. Und dabei merke ich häufig: Ich bin überhaupt keine Religionswissenschaftlerin, aber irgendwie fällt mir die Rolle zu, als einzige Vertreterin einer nicht monotheistischen Religion zu sprechen. Und das ist einfach sehr schade, weil das so bereichernd wäre. Angefangen damit, dass die Hinduismen keine Buchreligion sind. Es gibt nicht die Thora, die Bibel, den Koran des Hinduismus. Als die Brit*innen nach Indien kamen, haben sie gefragt: Was ist euer Glaubensbuch? Und dann haben sie gesagt: Okay, also wir entscheiden jetzt, es ist das „Ramayana“ und es ist das „Mahabharata“.  Aber das sind wichtige Texte, wie es viele andere wichtige Texte gibt, und sie alle sagen unterschiedliche Dinge. Zugleich sind die Hinduismen eine karmische Religion, d.h. es gibt Wiedergeburt. Doch das bedeutet, dass Geschlecht zum Beispiel deutlich weniger essentialistisch wahrgenommen werden kann, wenn es Wiedergeburt gibt. Denn man weiß ja nicht was im nächsten Leben und so weiter passiert.  Außerdem gibt es bereits im „Kamasutra" und im „Ramayana" drei Geschlechter, und das seit mehreren tausend Jahren. Also eigentlich ist das keine Religion, in der es irgendwie angelegt wäre, fundamentalistisch zu sein. Doch leider kann das jede Religion, wenn die Umstände es zulassen. Und das ist irre, weil die Hindutva, also der Hindu-Nationalismus, von Premierminister Modi ja vielen Ideen im Hinduismus widerspricht: Du hast schon so viele Götter und dann ändern die auch ständig nicht nur das Geschlecht, sondern die werden Tiere und dann werden die auch noch ein anderer Aggregatzustand; dann sind die plötzlich flüssig, sind ein Fluss oder ein Berg. Grenzüberschreitung ist in das Konzept eingeschrieben. Deshalb interessiert mich, wie Hindutva entstehen konnte, das wird unter anderem auch ein Thema meines nächsten Romans sein. Es war für mich überraschend, dass die Ursprünge tatsächlich im antikolonialen Widerstand liegen. Das ist ja mit vielen Fundamentalismen so, dass sie moderne Phänomene sind, die Reaktionen gegen bestimmte Formen der Unterdrückung des Westens waren. Deshalb sind ja viele der Gegenstrategien so kontraproduktiv, weil sie das System nur stärken: Ah, der Westen will uns unterwandern. Das ist keine Entschuldigung, aber wenn wir etwas ändern wollen, brauchen wir erst einmal eine korrekte Analyse.

Rabindranath Tagore in Deutschland, 1931, Image via en.wikipedia.org

Schlagen wir den Bogen mal zu Gauri Gill: Die indische Fotografin porträtiert ja gerade entgegen einer solch einseitigen Sicht auf Indien eine ganz andere Seite – weniger bunt, weniger patriarchale Strukturen...

Stimmt, deshalb hat mich die Ausstellung auch so umgehauen! 

Die Künstlerin beschreibt ihre kooperative fotografische Praxis selbst auch als eine Abkehr von der kolonialen Bildtradition in Indien. Wir hatten die Freude, mit Ihnen eine kleine Tour durch die Ausstellung zu machen. Was war Ihr erster Eindruck von Gauri Gills Werken, gibt es etwas, das besonderen Anklang bei Ihnen gefunden hat?  

Alles, aber besonders stark auf mich gewirkt hat tatsächlich die Werkserie „Fields of Sight”, die in Kooperation mit dem Warli-Künstler Rajesh Vangad entstanden ist. Also wirklich zusammen. Dass er nicht der Kunsthandwerker ist und sie die Künstlerin. Das bricht mit so vielen Vorstellungen von Kaste und wer eine Stimme hat und wer nicht. Wer macht Kunst und Kultur? Ich bin noch mit dieser Geschichte aufgewachsen, dass ursprünglich die Kshatriya, also die Kriegerklasse die höchste war und dass sich die Inder*innen dann entschieden haben, nein, die Kaste, die Kultur macht, die Wissenschaft macht, das soll die höchste Kaste sein. Und das waren dann die Brahmanen. Und ja, das ist natürlich eine sehr schöne Geschichte, aber sie schreibt auch das wahnsinnig brutale Kastenwesen fest. Natürlich hat Kunst und Kultur und Wissenschaft nichts mit Kaste zu tun, sondern damit, dass wir Menschen sind und das zutiefst menschliche Ausdrucksformen sind.

Gauri Gill und Rajesh Vangad, 'Gods of the Home and the Village', aus der Serie 'Fields of Sight’, 2021 © Gauri Gill und Rajesh Vangad

Was genau ist Kaste? Als Faustregel sagen wir Kaste ist wie Klasse, aber Klasse ist in bestimmten Punkten durchlässiger. So trat etwa Gandhi, von dem wir  immer denken, er habe sich so massiv für die „Unberührbaren“ eingesetzt, 1932 in einen Hungerstreik bis zum Tod, weil er verhindern wollte, dass sie als diskriminierte Gruppe besondere Rechte bekamen, z.B. bei Wahlen ihre eigenen Repräsentant*innen wählen konnten etc. Das ist die andere Seite von Ghandi, an dem man ganz viel bewundern kann und sollte, aber was das Kastenwesen angeht, ist er wirklich nicht mein Vorbild. Savarkar, der Vater des Hindu-Nationalismus, war wiederum jemand, der massiv gegen das Kastensystem war. Es gibt eben nichts Reines, du kannst Leute ganz schlimm finden und die sagen trotzdem ganz tolle Sachen und andere findest du ganz toll und sie setzen sich trotzdem manchmal für das Falsche ein.  Und diese Ambiguität, dass sich all das so eindrücklich in den Bildern von Gauri Gill und Rajesh Vangad verbindet, schätze ich.

Gauri Gill und Rajesh Vangad, 'Jameen', Teil des Tryptichons 'Jal, Jungal, Jameen', aus der Serie 'Fields of Sight’, 2021 © Gauri Gill und Rajesh Vangad

Darüber hinaus ist es nicht nur ein: Wir gehen jetzt zurück zu dieser traditionellen Warli-Kunst und blicken ausschließlich auf die Vergangenheit, sondern in den Arbeiten verbinden sich Fotografie UND Industrialisierung UND diese spezifische Bildsprache der Warli, in der es u.a. unglaublich viele Formen gibt, Blätter darzustellen. Es ist eine Bildsprache, die aus einer engen Beziehung zur belebten Natur um uns herum entsteht. Und das ist etwas, aus dem wir ganz viel lernen können, sollten und müssen in der aktuellen Situation. Wenn's um die Klimakatastrophe geht, haben wir immer nur dieses: „Ah, wir müssen uns jetzt alle total zusammenreißen, damit die Welt ein bisschen langsamer untergeht“ im Kopf. Wir haben ja überhaupt keine Vorstellungen von positiven Interaktionen mit der Natur, auf die wir zurückgreifen können. Und dabei gibt es so viel Wissen, lass es uns „indigenes Wissen” nennen, auch da wird immer drum gekämpft – ist das jetzt das richtige Wort, oder reproduziere ich damit koloniale Vorstellungswelten? Und was ich an diesen Traditionen so bereichernd finde, ist, dass es dort Antworten auf die Frage gibt, wie können wir auf Augenhöhe mit der Natur umgehen, wie können wir auch nützlich sein für die Umwelt, wie können wir ein anderes Verhältnis miteinander eingehen? Und das sind alles Dinge, die in diesen Arbeiten mitschwingen. Das ist so toll und es sind halt Kunstwerke, die nicht mit erhobenem Zeigefinger daherkommen, sondern so viele Bedeutungsebenen enthalten. Du kannst davorstehen und wahrscheinlich eine Woche lang da reingucken und immer wieder Neues entdecken!

Gauri Gill. Acts of Resistance and Repair

13. Okto­ber 2022 bis 8. Januar 2023

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