Haarige Torten und gesichtslose Körper. So lassen sich Julie Curtiss’ Werke in wenigen Worten beschreiben. Ein Interview über Gedankenspiele, bedrohliche Hände und ihr Vorbild Meret Oppenheim.

Julie Curtiss wurde in Paris geboren und lebt zurzeit in Brooklyn, New York City. Sie ist die dritte von vier Künstlerinnen, die Teil der Surrealismus Reloaded-Interviewserie ist. Wie auch Jessica Stoller, Inka Essenhigh und Rose Nest­ler, lässt sich Julie Curtiss in ihren Arbei­ten von den Moti­ven und Themen des Surrea­lis­mus inspi­rie­ren. Den Fußstap­fen der Fantas­ti­schen Frauen folgend, inter­pre­tiert sie die Motive und Themen der Surrealist*innen aus einer abso­lut zeit­ge­nös­si­schen Perspek­tive und entwirft in ihren Werken neue weib­li­che Rollen­bil­der.

Curtiss‘ Bilder sind dominiert von weiblichen Köpern (ohne Gesicht), Haaren (auf allem), Fingernägeln (oft überlang) und Essen (Kuchen!). Sie ist bekannt für ihren präzisen, grafischen Stil und psychologisch aufgeladene Themen rund um weibliche Identitäten und Narrative.

Julie Curtiss in her studio © Dan McMahon

Lass’ uns zuerst ein bisschen über deine Herangehensweise sprechen.

Meine Bilder haben ihren Ursprung oft in mentalen Bildern. Sie entstehen während ich spazieren gehe und meditiere, in schlaflosen Nächten, wenn ich ein Bild oder einen Film anschaue oder einfach etwas ganz Alltägliches tue. Sie entstehen durch freie Assoziationen, einen Gedanken, der die Form eines Bildes annimmt, das von dort aus zum nächsten führt – ein bisschen, als wenn ich „Stille Post“ mit mir selbst spielen würde. Der erste Gedanke verzweigt sich, verzerrt sich mehr und mehr und erreicht dann endlich einen Punkt, an dem ich eine Idee skizziere. An dieser Skizze arbeite ich dann weiter und verfeinere die Idee dahinter, vereinfache die Konturen, um den Inhalt besser zu vermitteln.

Interessant! Kannst du eines deiner Gemälde nennen und anhand dessen erklären, welche Themen dich besonders interessieren?

Ich arbeite neben vielen anderen Dingen mit dem schwer greifbaren Identitätsbegriff. Oft gibt es eine Art Dualität, eine Verdopplung in den Charakteren, die ich male. Bei „Triplette“ (2019) zum Beispiel sehen die drei abgebildeten Figuren aus wie Klone. Da ist etwas Primitives in der Art und Weise, wie sie sich gegenseitig lausen, wie Primaten. Es beschwört eine ganze Reihe von Sprichworten herauf, wie „picking someone’s brain“ (jemanden ausfragen) oder „getting in someone’s head“ (jemanden besser verstehen oder beeinflussen). In der Psychologie repräsentiert der Dachboden eines Hauses oft das Unbewusste, oder einfach ausgedrückt: es ist ein Ort der Aufbewahrung, der Kisten mit persönlichen und familiären Erinnerungen beherbergt. Die Wiederholung der Hauptfigur, zusammen mit der sich wiederholenden Maserung des Holzes, holt Ideen von Mustern und Zyklen, von kollektivem Bewusstsein und Verhaltensmustern, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden, hervor.

Ich verstehe. Wie auch die Surrealist*innen interessierst du dich besonders für Psychologie und das Unbewusste. Was bedeutet Surrealismus für dich und was für eine Rolle spielt er in deiner Arbeit?

„Surreal“ ist zu einem Adjektiv geworden. Was Leute in der Kunst heutzutage als surreal bezeichnen, ist eine bestimmte ästhetische Qualität des Mysteriösen, unerwartete Kombinationen, eine Vermischung des Alltäglichen mit der Fantasie. Die aktuell wiederauflebende, surreale Strömung unterscheidet sich allerdings stark von den Anfängen des Surrealismus. Nachdem ich Luis Buñuels Autobiografie „Mein letzter Seufzer“ gelesen habe, wurde mir klar, dass im Herzen der ursprünglichen Bewegung philosophische und politische Elemente standen. Viele der Dinge, für die die Surrealist*innen gekämpft haben – die Zurückweisung der etablierten Denkweisen und Ästhetik – sind in unserer modernen Gesellschaft stärker und in der Kunstwelt fast vollständig integriert.   

Ich persönlich denke, dass die Psychologie der wichtigste Faktor für meine künstlerische Entwicklung war. Seitdem ich Kunst mache, war ich an der Psychologie Jungs und der Idee von Archetypen interessiert. Die Surrealist*innen haben Freuds Psychologie gefeiert und als kreatives Vehikel verwendet, um ihr Unbewusstsein zu befreien. Ich bin fasziniert von den Strukturen, die dem Unbewussten innewohnen und obwohl ich es wichtig finde, meine Arbeiten ergebnisoffen zu lassen, glaube ich auch an die Macht von Bedeutung, die von der Allgemeinheit getragen wird und sich individuell durch Symbole, Mythen und Archetypen ausdrückt. In vielerlei Hinsicht finde ich, dass der weibliche Surrealismus mehr mit dieser Tradition gemein hat. 

Absolut. Wenn du dir eine der Künstler*innen unter den „Fantastischen Frauen“ aussuchen müsstest, welcher fühlst du dich am nächsten?

Ich fühle mich mit vielen der „Fantastischen Frauen“ verwandt. Ich habe mich immer sehr zu der Intensität von Louise Bourgeois hingezogen gefühlt, zu der Vielfältigkeit ihrer Praxis. Ich kann mich noch ganz genau erinnern, wie ich in den späten 90ern zum ersten Mal Skulpturen von Dorothea Tanning im Centre Pompidou gesehen habe, die haben sich in meine Erinnerung eingraviert. Aber seit kurzem denke ich, dass Meret Oppenheim die Künstlerin ist, die mir am nächsten steht. Ich habe ihre Arbeiten lange Zeit nicht beachtet und bin froh, dass ich ihr nun doch Aufmerksamkeit geschenkt habe, als ich dabei war, eine Skulptur zu erstellen, die ihren „Gloves“ (1985) stark ähnelt. Es ist echt verrückt, wie stark sich unsere Empfindungen ähneln und wie verbunden unser Unbewusstes ist, obwohl wir Generationen voneinander entfernt sind.   

Ja, ihre Felltasse fällt einem dabei direkt ein, die Verbindung zwischen dir und Oppenheim macht total Sinn! Ein anderes Thema, das zentraler Bestandteil deiner Arbeit und der vieler Surrealist*innen ist, ist der weibliche Körper. Warum?

Meine Arbeiten scheinen oft in die Auseinandersetzung mit dem Körper und seiner Verbindung zur Seele, Natur und Kultur vertieft. Frauen sind für mich auf einzigartige Art und Weise mit ihren Körpern verbunden. Da ist so etwas Fundamentales, schon fast an Belastung Grenzendes an weiblichen Körpern vorhanden, das gleichzeitig aber auch erbauend ist, wie unsere Verbindung zum Kosmos und zum Menstruationszyklus. Frauen – und ihre Körper – faszinieren die kollektive Vorstellungskraft seit jeher, wir sind Musen und Models. Obwohl Frauen schon immer Kunst gemacht machen, haben unsere Körper immer mehr Aufmerksamkeit bekommen als unsere Stimmen. Wir haben die Welt aus unserer Perspektive weder repräsentieren noch erzählen können. Was ich versuche, gemeinsam mit Generationen anderer Künstler*innen, ist diesen Erzählstrang rund um den weiblichen Körper wieder einzufordern. Und der Körper ist nur der Anfang, ein Erwachen. 

Interessant! Weibliche Freundschaften und Netzwerke waren zentral für die Künstlerinnen der 1930er- und 40er-Jahre. Du bist sehr erfolgreich auf Instagram, glaubst du, dass die Plattform der neue Salon für die Künstlerinnen-Community ist?

Ja, ich denke, dass Instagram das internationale Kunstfeld revolutioniert hat. Freundschaften und Netzwerke sind entscheidend für das Überleben des „Underdog“. Bei Instagram gehts um Kooperationen und Neugierde, darum, Sichtbarkeit zu teilen: zeigst du mich, zeige ich dich. Es ist ein Austausch. Ich kann mir vorstellen, dass vor allem Künstlerinnen, die sich noch keinen Platz im etablierten Kunstmarkt gesichert haben, hier einen wichtigen Ort zur Selbstdarstellung finden. Von Anfang an hat Instagram es ermöglicht, den Mittelsmann auszuschalten und aufstrebende Künstler*innen direkt in Kontakt mit jungen Sammler*innen zu bringen.  

So hatte auch ich meinen Durchbruch: ein bisschen Sichtbarkeit und ein gutes Maß an Sammler*innen, die mir folgten. Außerdem habe ich ein paar wichtige, zentrale Kontakte über Instagram geknüpft und gleichgesinnte Künstlerinnen gefunden, die später meine Freundinnen geworden sind, wie Hein Koh und Loie Hollowell, um mal ein paar zu nennen. Im Verlauf meiner Karriere hat sich Instagram aber auch verändert. Leider kenne ich auch jede Menge Künstler*innen, die an den Rand der Plattform verdrängt werden. Ich glaube nicht, dass sie für alle gleich gut funktioniert. Also würde ich sagen: Ja, es ist ein neuer Salon, aber es ersetzt nicht die bereits bestehenden Netzwerke. Ich bin Teil eines Künstlerinnen-Crit/Book Clubs, der sehr altmodisch, aber auch sehr erfolgreich nur durch Mundpropaganda funktioniert.

Als ich deine Arbeit “Quarantine“ (2018) gesehen habe, musste ich sofort daran denken, wie passend sie zur Coronakrise ist. Wie hat die Ausgangssperre deine Arbeit verändert?

Ich kann gar nicht anders, als Vorwarnungen der Situation in meinen Bildern zu sehen. Eine Art Filter, der die Lesart meiner Arbeiten beeinflusst. Und der ist gewaltig.

FANTASTISCHE FRAUEN

SURREALE WELTEN VON MERET OPPENHEIM BIS FRIDA KAHLO

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