Rose Nestlers Stoff-Skulpturen führen in ihren Videos ein oft bizarres Eigenleben. Wie sie damit Stereotypen aufbricht und warum Filmkünstlerin Maya Deren alles verändert hat, erzählt die Künsterlin im Interview.

Die Videokünstlerin und Bildhauerin Rose Nestler lebt in Brooklyn und ist die letzte der vier Künstlerinnen aus der Interviewserie „Surrealism Reloaded“. Ebenso wie Jessica Stoller, Inka Essenhigh und Julie Curtiss lässt sich auch Rose Nestler von Motiven und Themen des Surrealismus inspirieren. Den Fußstapfen der Fantastischen Frauen folgend, interpretiert sie diese Motive und Themen, wie Femininität, aus einer absolut zeitgenössischen Perspektive.

Nestler erschafft farbenfrohe, weiche Skulpturen und Wandarbeiten in Form von Kleidung und zeigt, wie sich geschlechtsspezifische Stereotypen auf den Körper auswirken. Allen ihren Werken verleiht sie eine allgegenwärtige weibliche Kraft. Traditionell männlich dominierte Bereiche, wie die Sport- oder Geschäftswelt, werden von ihr als weibliche Räume reimaginiert. Ihre Videoarbeiten paart die Künstlerin jeweils mit einer Skulptur und aktiviert ihre Arbeiten, um ihnen jenseits ihrer statischen, skulpturalen Existenz Leben einzuhauchen.

Rose Nestler in her studio © Maxim Ryazansky
Rose Nestler in her studio © Maxim Ryazansky

Könntest du eine deiner Arbeiten herausgreifen und etwas zum Arbeitsprozess sagen? Welche Themen interessieren Dich?

Mein neuestes Video mit dem Titel „The Weird Sisters“ habe ich während der Ausgangssperre in meiner Wohnung in Brooklyn gedreht. Es ist bisher meine kürzeste Videoarbeit und wird auch von einer Skulptur mit dem gleichen Titel begleitet. Im Grunde dokumentiert es, wie ich selbst zu meiner eigenen Skulptur werde. Dafür habe ich ein kleines Set aus einem Schaumstoffkern mit einem Überzug aus durchsichtigem Vinyl gebaut. Meine blauen Krallenhände greifen durch zwei kreisförmige Löcher im Set, und meine Handgelenke sind verziert mit elisabethanischen Handkrausen, ebenfalls geformt aus transparentem Vinyl.

Meine blauen Hände tanzen und bewegen sich im Rhythmus der Musik – einer der Arie „Amor ist ein kleiner Dieb“ aus Mozarts Oper „Così fan tutte, die mein Mann gemacht hat, der DJ ist . In der Mitte des Videos kommt dann eine dritte Figur dazu: glasklarer durchsichtiger Schleim! Er tropft von oben herab, während meine blauen Hände ihn auffangen, kneten, in sich verdrehen und ihn werfen. Der in seiner Konsistenz irgendwo zwischen flüssig und fest angesiedelte Schleim durchbricht das binäre Spiel der beiden Hände und bringt etwas Neues hinein, die Assoziation mit einem „seltsam angenehmen Gefühl“, mit einem ASMR-Trigger (dem Kribbeln, das man bei bestimmten Geräuschen oder Berührungen verspürt) und einer sinnlichen Qualität. Nur ist das im Video nicht ersichtlich. Die Befriedigung oder Erregung, die der Schleim bewirkt, wird von den beiden Händen nur in ihrem eigenen Raum erlebt. Ich habe mich dafür als einen Akt der Selbstfürsorge entschieden, der in einer Zeit wie dieser notwendig ist.

Die Form der menschlichen Hand benutze ich in dem Fall, um Themen wie Intimität, Macht, Schutz, Komik und Wut anzusprechen. Wir befinden uns aktuell in einer Zeit, in der die Hand gleichbedeutend ist mit Gefahr, und achten deshalb mehr denn je auf Berührungen. Wir ziehen Handschuhe an, um uns zu schützen. In der Zeit der Quarantäne wachsen die Fingernägel. Und die Krallenhände in dieser Arbeit stehen für eine wilde Schönheit. Dazu stelle ich mir Handschuhe vor, die auch über lang gewachsene Krallennägel passen würden.

Sehr interessant! Indem du historisch von Männern dominierte Bereiche wie die Sport- und Geschäftswelt in deinen Werken einforderst, stellst du – ähnlich wie die Surrealisten – etablierte Machtstrukturen und Geschlechterstereotypen infrage. Was bedeutet Surrealismus für dich und welche Rolle spielt er in deiner Arbeit?

In der Surrealismus-Bewegung waren Frauen ja keineswegs willkommen, und die berühmtesten Surrealisten behandelten Frauen als Musen, deren Körper dem sezierenden männlichen Blick offengelegt wurde. Trotzdem haben mich schon als junge Künstlerin und Studentin die von surrealistischen Malern und Fotografen geschaffenen Welten angezogen, besonders die von Max Ernst und Man Ray. Ähnlich wie viele Frauen, die inzwischen der Bewegung zugeordnet werden, jedoch ambivalente Gefühle gegenüber der Zuschreibung zum Surrealismus hegten oder es sogar ablehnten, stelle ich teilweise auch diese Einordnung meines Werkes infrage. Was mir allerdings gefällt, ist die Gruppierung zusammen mit zeitgenössischen und historischen Künstler*innen, die ich zutiefst bewundere.

Ich glaube, ein Großteil meiner Arbeit verbindet sich mit der Vorstellung vom Körper als Leinwand für das Unterbewusstsein. Viele meiner Werke spielen mit traumähnlichen Zuständen, in denen der Körper seine Form verändert und Körperteile besondere Fähigkeiten besitzen. In einigen meiner Arbeiten sitzt auch eine tiefe Scham, so wie in klassischen Träumen von mir, dass ich ohne Kleidung irgendwo auftauche oder durch meine Unterhose durchblute, ohne es zu merken.

Ja, das kenne ich ... Wenn du eine Künstler*in aus der Ausstellung „Fantastische Frauen“ auswählen solltest, der du dich am nächsten fühlst – wer wäre das?

Das ist so eine schwere Frage. Denn dort sind einige meiner absoluten Lieblingskünstler*innen versammelt! Aber wenn ich wählen müsste, würde ich sagen: Maya Deren und Meret Oppenheim. Als ich Maya Derens Film „At Land“ zum ersten Mal sah, da war das so, als hätte sich für mich als Künstlerin alles verändert. Ich erkannte dort eine Öffnung und die Möglichkeit, Werke zu schaffen, die soziale Rituale und menschliche Bewegung in einem filmischen Rahmen untersuchen. Was Oppenheims Werk betrifft, so denke ich, dass ihre Objekte den Weg für eine Künstlerin wie mich geebnet haben, um ihn weiterzugehen, um Kleidungsstücke, Accessoires und Gebrauchsgegenstände zu erkunden, um sie in bizarren, unerwarteten Materialien nachzubilden.

Verstehe. Deine Werke verbinden häufig das Element der Kleidung mit dem weiblichen Körper und machen es zu einem integralen Bestandteil deiner Arbeit. Warum?

Meine Arbeit interpretiert Kleidungsstücke und Utensilien neu, die Menschen, vor allem Frauen, dazu benutzt haben, um ihren Körper zu schützen und anzupassen – während sie gleichzeitig versuchen in einer patriarchalisch-kapitalistisch geprägten Gesellschaft zu bestehen und mitzuhalten. Ich beschäftige mich vor allem mit der Spannung zwischen der von mir empfundenen Ablehnung und gleichzeitigen Anziehung von Materialien und Formen, die solche geschlechtsspezifischen Kleidungen und Objekte im Laufe der Geschichte angenommen haben.

Der Begriff des „weiblichen Körpers“ ist etwas zu weit gefasst oder exklusiv in seiner Inklusivität, aber ja, ich spreche aus eigener Erfahrung mit meinem weiblichen Körper. Allerdings hoffe ich, dass meine Arbeit über eine genderbezogene Betrachtungsweise hinausreicht.

Verstehe. Weibliche Freundschaften und Netzwerke spielten für die Künstlerinnen der 1930er- und 1940er Jahre eine wichtige Rolle. Du bist bei Instagram aktiv – glaubst du, die Plattform ist der neue Salon für die Künstler*innen-Community?

Ja! Die Freundschaften und Netzwerke, die ich mit anderen Frauen, die Künstlerinnen sind, geknüpft habe, sind unglaublich wichtig und wertvoll für mich. Wenn sich Gelegenheiten für mich ergeben haben, so kamen sie meist durch Weiterempfehlungen von Kolleginnen zustande. Viele meiner Künstlerfreund*innen auf der ganzen Welt habe ich auf Instagram kennengelernt, wir teilen unsere Arbeiten miteinander und unterstützen uns gegenseitig. Das macht die Plattform (die ja durchaus Mängel hat) zu einem Ort, an dem man sich gleich aufgenommen fühlt!

Stimmt. Zu Beginn hast du die Coronakrise erwähnt, wie hat sich die Ausgangssperre auf deine Arbeit ausgewirkt?

Als der Shutdown Mitte März in New York kam, wurde auch mein Studiogebäude vorübergehend geschlossen. Damit war ich gezwungen, von zu Hause aus zu arbeiten. Es war ganz klar eine Herausforderung, den Rhythmus zu wechseln, Inspiration zu finden, an Werken arbeiten zu wollen, aber letzten Endes glaube ich, dadurch ergaben sich für mich auch Möglichkeiten, umzudenken, neue kreative Wege für meine künstlerische Praxis zu finden. Da viele Ausstellungen, an denen ich teilnehmen sollte, abgesagt oder verschoben wurden, habe ich etwas mehr Freiheit gewonnen, neue Ideen auszuprobieren und mir Zeit für die Recherche zu nehmen.

SATURDAY BEFORE CLOSING ¡ADIÓS, FANTÁSTICAS!

Am letz­ten Sams­tag ist die Ausstel­lung bis 24 Uhr geöff­net. Da die Tickets hier­für schon längst ausver­kauft sind und wir trotz der aktu­el­len Bedin­gun­gen mit Ihnen die FANTAS­TI­SCHEN FRAUEN feiern wollen, gibt es am Sams­tag ab 20 Uhr ein Sonder­pro­gramm auf den Online-Kanä­len der SCHIRN.

Mehr Infos zum Event