Anlässlich der Graffiti-Akademie: Bekannte und weniger bekannte Fakten über die Writer der ersten Generation im New York der 1970er-Jahre.

Vom 15. bis 28. April 2013 veranstaltet die SCHIRN Kunsthalle gemeinsam mit der KfW-Stiftung eine Graffiti-Akademie. Eingeladene Graffiti-Künstler der Szene stellen das breite Spektrum an unterschiedlichen Techniken und Styles vor und geben in Workshops für Jugendliche, junge Erwachsene und Familien die Möglichkeit, Street-Art und Graffitikunst in ihrer ganzen Bandbreite kennen zu lernen. Im September 2013 präsentiert die SCHIRN erstmals in Deutschland die Vielfalt der brasilianischen Graffitikunst im Rahmen der Ausstellung „Street-Art Brazil". Zahlreiche Künstler aus São Paulo und anderen Städten Brasiliens sind eingeladen, verschiedenartige Orte im Frankfurter Stadtraum zu gestalten und damit den alltäglichen Blick auf die Stadt zu transformieren. Grund genug, einen Blick auf die Geschichte des Stylewriting zu werfen.

Die Ausdrucksform „Stylewriting" mit Schwerpunkt auf der phantasievollen Verfremdung zweidimensionaler Buchstaben ist verhältnismäßig jung: Sie wurde zwischen 1971 und 1972 von New Yorker Jugendlichen entwickelt. 

TAKI183

Ein 1971 in der New York Times erschienener Artikel über den Botenjungen TAKI183, der seinen Spitznamen in Kombination mit der Nummer seiner Straße in allen 5 Stadtteilen New Yorks hinterlassen hatte, löste unter den Jugendlichen der Stadt einen regelrechten Boom aus. Zwar war der Name bereits vorher vielen aufgefallen und hatte andere wie etwa Barbara62 und Eva62 zum Nachahmen animiert, doch der Artikel mit einem Foto seiner Signatur sorgte schließlich für eine überwältigende Anzahl von Pseudonymen, die überall im Stadtraum auftauchten.

Aufgrund der unüberschaubaren Menge von Signaturen („Tags", die damals noch als „Hits" bezeichnet wurden), entwickelte sich ein Wettstreit unter den Jugendlichen der Stadt, wer seinen Namen am häufigsten und an den ausgefallensten Stellen platzieren konnte. Einzelne Writer versuchten außerdem, sich durch einen individuellen Stil von der Masse abzuheben.

LEE163d! und die Stilisierung der Signatur

Während zwischen 1970 und 1971 die Pseudonyme vor allem in Manhattan verbreitet waren, war die Bronx noch weitgehend unberührt. In dieser Zeit machte sich LEE163d! als erster Writer aus der Bronx einen Namen, indem er seine Signatur gut sichtbar auf der Frontseite der Züge platzierte, die von der Bronx nach Manhattan fuhren. Darüber hinaus stilisierte er seine Signatur in ungewöhnlicher Weise, indem er seine geschwungen geschriebenen Buchstaben monogrammartig ineinander verschachtelte. Damit regte er wiederum andere Writer an, die seine Idee nachahmten.

Erste Pieces

Anfang 1972 begannen einzelne Writer, ihre Signatur dicker zu schreiben und mit einer andersfarbigen Linie zu umranden. Diese Zwischenform zwischen Piece und Signatur wird wiederum als „Signature-Piece" bezeichnet.

1972 entstanden aus den einfachen Signaturen bald größere und zum Teil sehr aufwändig gestaltete Kompositionen von Namensschriftzügen, so genannte „Pieces" (Kurzform von „Masterpieces"). Der Writer „Super-Kool", der ebenfalls aus der Bronx stammte, wurde dafür bekannt, das erste richtige „Piece" an die Außenseite eines Subwayzuges gemalt zu haben. Statt der üblichen „Caps" (Dosenaufsätze, Düsen), die sich auf der Dose befanden, verwendete er die gröbere Cap einer Metallic-Farbe, die auf einer regulären Farbsprühdose verwendet einen dickeren Farbstrahl hervorbrachte. Später entdeckten andere Writer, dass der Aufsatz von Ofenreinigern einen ähnlichen Effekt erzielte.

Simple Style versus Complex Style

Nachdem seine Idee der dickeren Buchstaben von anderen Writern wegen der „unnötigen Farbverschwendung" zunächst kritisiert wurde, waren im Laufe des Jahres immer mehr Pieces auf den Waggongs der New Yorker Subway zu sehen. Dabei entstanden völlig unterschiedliche Stile, die man in zwei Hauptgruppen unterteilen kann:

Zum einen den „Simple Style", der eine gute Lesbarkeit zum Ziel hat und einfache, zum Teil gerade, aber auch „bubble-förmige" Formen aufweist. Zum anderen den „Complex Style", der zum Ziel hat, Buchstaben entgegen der üblichen Norm zu entfremden und dabei einen persönlichen Stil herauszuarbeiten. Hier geht es vor allem um das Erzeugen einer Dynamik durch ein abstrahiertes und entfremdetes Schriftbild, unter anderem durch das Hinzufügen von Pfeilen und Ornamenten. Der Bronx-Writer PHASE 2, der mit LEE163d! befreundet war, entwickelte diese völlig neue Schriftidee 1972, angeregt durch das von Super-Kool gemalte Piece und der damit verbundenen Idee, den Schriftzug ausgehend von der Umrisslinie (statt von der Füllung) aus zu gestalten. Später wurde seine Erfindung von anderen Writern (nie von ihm selbst) oft als „Wild Style" bezeichnet. Viele Pieces bewegen sich in einer Grauzone zwischen diesen beiden Ansätzen, weisen aber Tendenzen in jeweils eine Richtung auf.

Wild Style

Hierzulande ist kaum bekannt, dass der Ausdruck „Wild Style" ursprünglich Mitte der 1970er-Jahre von TRACY168 erfunden wurde. Er bezog ihn damals wie heute allerdings nicht auf Schriftzüge, sondern auf einen „wilden, ungezähmten Lebensstil" sowie darauf, „der beste zu sein, was auch immer man tut." Da TRACY168 eine Crew mit diesem Namen gründete, tauchte der Crewname regelmäßig in seinen Pieces auf, was andere Writer fälschlicherweise für die Bezeichnung eines neuen Schriftstils hielten. Nachfolgende Generationen übernahmen diese Sichtweise und verwenden den Begriff allgemein für die Bezeichnung von „Complex Letters". 

1983 wurde der Ausdruck „Wild Style" auch für einen Filmtitel verwendet, nachdem TRACY168 hierfür sein mündliches Einverständnis gegeben hatte. Noch heute läuft allerdings ein Prozess über das Urheberrecht für diese Bezeichnung. Der Film "Wild Style" löste 1983 auch in Europa einen ersten Boom unter Jugendlichen aus, so dass das Writing hierzulande erste Blüten trieb. Während die Bezeichnung ihre Ursprünge in den 1970er-Jahren hat, repräsentiert der Film allerdings eine spätere Generation von New Yorker Writern, darunter unter anderem „LEE" (Nicht identisch mit LEE163d!) und Lady Pink.