Maskiert in die Öffentlichkeit, das ist in diesen Zeiten die neue Normalität. Was Masken gleichzeitig preisgeben, zeigt ein Blick in die Kunst und Popkultur.

Wer sich in der letzten Zeit in den Supermarkt gewagt hat, weiß, wie schwierig der Augenkontakt mit den Mitmenschen geworden ist. Mit Atemschutzmaske kann man niemanden anlächeln, und das Spiel der Augenbrauen ist so ein unzuverlässiger und missverständlicher Kommunikationskanal. Man fühlt sich, als würden alle nur stur und stumm vor sich hinstarren. Ob man jemanden erschrecken, ein Verbrechen begehen oder sich schützen will, es gibt viele Gründe eine Maske aufzusetzen. 

Und vielleicht liegt ja gerade da das Problem. Denn Masken tragen einen Riesenvorrat an sozialer und kultureller Bedeutung, und das Meiste davon scheint negativ besetzt. In der Kunst aber werden an der Maske, dieser Membran zwischen Ich und Welt, die existentiellen Fragen sichtbar. Ein guter Zeitpunkt also, einen Blick in die Kulturgeschichte der Maske zu werfen.

Woher kommt die Faszi­na­tion für Masken?

Erst einmal: Woher kommt eigentlich die Faszination für Masken in Europa? Masken, so schrieb einst der Kulturhistoriker Johan Huizinga in seinem Buch „Homo ludens“, ließen Menschen schöner, erhabener und gefährlicher erscheinen. Der Tragödiendichter Euripides beschrieb, wie Teilnehmer der griechischen Dionysien sich mit Tierfellen verkleideten und Wein tranken. Aus diesen Festen für den Weingott ging das antike Theater hervor, und das Wort „Person“, vom lateinischen „persona“, bezeichnete ursprünglich die Masken in eben jenen Theaterstücken. Aber wieso das leichte Gruseln, das einen heute beim Anblick von Maskierten befällt? 

Mosaik einer Maske des antiken griechischen Theaters in Delos, Image via wikicommons

Nehmen wir einmal den Isenheimer Altar, den Matthias Grünewald zwischen 1512 und 1516 gemalt hat, und der heute im Museum Unterlinden zu sehen. Auf der Außenseite zeigt das Bildwerk die Versuchung des heiligen Antonius.  Dieses Sujet ist traditionell ein Vorwand für Künstler, fantastische, groteske Wesen zu erfinden oder aus der volkstümlichen Tradition zu adaptieren. Von der rechten Bildseite her bestürmen Kreaturen den greisen Einsiedler, ganz vorne hebt ein Dämon im Federkleid einen Ast, um auf den heiligen Mann einzudreschen. Der Dämon trägt, anstatt eines Gesichts, einen Vogelkopf. Wie eine Maske sitzt der auf dem Rumpf.

Es sieht ganz so aus, als wollte der Maler kurz vor der Verbreitung von Buchdruck, Reformation und etwas später der Aufklärung noch einmal den karnevalesken Erfindungsreichtum des Mittelalters durchspielen. Angesichts einer solchen Einbildungskraft fragt man sich, warum bloß die Menschen wenig später – an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert nämlich – Pestmasken konstruierten, die Grünewalds Vision sehr ähnlich sahen. In jenen Jahrhunderten wurde Europa immer wieder von Epidemien heimgesucht, und den Kranken musste es so vorkommen, als wären sie der Hölle schon ganz nahe. Dabei hat der Schnabel eine Funktion. Er sollte den Träger schützen, indem wohlriechende Kräuter und Harze darin die Atemluft filterten, denn man glaubte, dass die Krankheit von üblen Gerüchen verursacht werde.

Kolorierter Kupferstich eines Pestdoktors von Paul Fürst, Der Doctor Schnabel von Rom, ca. 1656, Image via WikiCommons

Neben ihrer Schutzfunktion haben Masken auch einen Effekt, der sich aus einem jahrhundertealten Wissensvorrat speist. An dieses kulturelle Unterbewusstsein haben sich die Surrealistinnen und Surrealisten in den 1920er und 30er Jahren angeschlossen, mit ihrem Interesse an Traum, Traumata und Archetypen. Folgerichtig also, dass die Künstlerin Meret Oppenheim sich auch mit Masken beschäftigte, und zwar über Jahrzehnte. Das sind entkörperlichte Gesichter, ganz sicher nicht zum Tragen gedacht. Eine davon besteht zum Beispiel aus einer Art Netz, mit zwei gläsernen Halbkugeln als Augen, eine orangefarbene Zunge hängt heraus, darauf mit Filzstift das Wort „Bäh“.

In Jungs Theorie der Seele hat die Maske einen besonderen Platz

Zur Legendenbildung um die Surrealistin gehören auch ihre Kostüme, die sie ebenfalls selbst entwarf und trug. Möglicherweise, um Kunst und Leben zu vermählen. Jedenfalls war die 1913 in Berlin geborene Oppenheim eine aufmerksame Leserin des Schweizer Psychoanalytikers C. G. Jung, und in dessen Theorie der Seele hat die Maske – er nennt sie Imago – einen besonderen Platz, denn sie steht für die Erinnerungsbilder, anhand derer wir die Identität von Personen festmachen. In der Nachkriegszeit bereitete die bildende Kunst viel vor, was in den Jahrzehnten danach bestimmend für die Popkultur wurde. 

Meret Oppenheim, Maske mit Bäh-Zunge, o.J. © Privatsammlung / VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Andy Warhols Factory war in New York der glitzernde Katalysator eines Underground, in dem die Randgestalten zu Superstars wurden: Musiker, Fotografen und Schauspieler, meist ohne Maske. Aber auch in diesem Labor, das die Formel für den schillernden Identitätswandel des Pop erfand, galten Huizingas Worte: Gesucht wird das, was schöner, erhabener, gefährlicher macht. 

Kanye West macht die Maske zum Modeaccessoire

Jeder kann sich selbst (neu) erfinden, und genau das tun fortan die Exzentriker des Pop. Zum Beispiel der Rapper und Songwriter Kanye West. Der trug für seine Tour im Jahr 2013 verschiedene, mit Edelsteinen besetzte Masken. Erste Anzeichen von Größenwahn? Bestimmt, immerhin hieß das Album, von dem er Lieder sang, „Yeezus“. Aber vielleicht war es auch nur das alte Spiel mit Identitäten, das nicht nur für bildende Künstlerinnen und Künstler, sondern auch für Popstars zum Handwerk gehört. Der Rapper ließ die Masken von Martin Margiela entwerfen, der nicht unterschiedlicher als West sein könnte: Der Designer tut nämlich das genaue Gegenteil von West: alles, um nicht in der Öffentlichkeit zu stehen. Ein kluger PR-Zug, denn damit wiederum sicherte Margiela seinen legendären Status. Aber gleichzeitig führt er auch vor, dass es schon vor der Digitalisierung ein Luxus für Wenige war, keine Lust auf Öffentlichkeit zu haben.

Kanye West mit Margiela maske, Image via WikiCommons

Und das gilt heute umso mehr. Denn der öffentliche Raum ist digital überwachbar geworden, von Algorithmen, die Videoaufnahmen mit Datensätzen abgleichen, um Gesichter zu erkennen. Die Technologie verbreitet sich – und man muss nicht paranoid sein, um sich nach ein wenig Anonymität zu sehnen. Nicht erkannt werden: Die Sorge darum treibt beispielsweise auch den Künstler Adam Harvey an, der 2013 mit seiner Arbeit „CV Dazzle“ der digitalen Gesichtserkennung zuvorkommen wollte. Mit einer Kombination aus Schminktipps und asymmetrischen Frisuren sollen die Überwachungstechnologien einer dystopischen Zukunft ausgehebelt werden, indem die Punkte verdeckt sind, anhand derer eine Künstliche Intelligenz Gesichter erkennt. Für das Jahr 2020 ist eine Neuauflage des Projekts geplant. Ob Harvey Atemschutzmasken in seine Arbeit einbauen wird, ist nicht bekannt.

Wie man mit Schminke die Gesichtserkennung aushebelt

Die Kunst entdeckt derweil die Theatermaske wieder, und zwar als Accessoire für Grenzgänge. In seinem Video „Human Mask“ von 2014 lässt der französische Künstler Pierre Huyghe einen Makaken auftreten, der in einem menschenleeren Restaurant in der Sperrzone um Fukushima arbeitet. Der Affe trägt eine Perücke und eine schneeweiße Maske, wie sie im japanischen Nō-Theater benutzt werden. Der unheimliche Effekt dreht sich um. Hier wird kein Mensch zum Dämon gemacht, das hat auch nichts mehr mit Anonymität zu tun. Die weiße Maske ist die perfekte Projektionsfläche, und der Affe wirkt seltsam menschlich. Kategorien verwischen, klar, aber die Frage wird noch grundsätzlicher: Was macht ein Wesen zur Person — und was hat das Gesicht damit zu tun?

CV Dazzle, Look + 2, Photo © Cha Hyun Seok,
Image via cvdazzle.com

Unlängst schrieb der Kulturwissenschaftler Thomas Macho, dass wir in einer Gesellschaft der Gesichter leben. Wenn wir sie nicht zeigen, markiert das einen Ausnahmezustand: Spiel, Karneval, Krieg oder eben eine Pandemie. Zugleich möchte man widersprechen, denn immer wieder ist die Rede von einer neuen Normalität. Auf die ist die Modeindustrie unterdessen bestens vorbereitet. Gesichtsmasken von einschlägigen Streetwear-Marken sind in Ostasien schon lange auf dem Markt, und es dauert nicht mehr lange, bis Modelle von Off-White™ oder BAPE auch in europäischen Großstädten zum Alltag gehören. „Sie sind kein must-have-Accessoire mehr, sondern wirklich ein must have, wenn man nicht sterben will“, heißt es im Modemagazin „Highsnobiety“, ein bisschen existentialistisch klingend. Die Maskierung in der Öffentlichkeit, sie wird eine Weile Teil unseres Alltags bleiben.

Mit Maske auf dem Laufsteg, Image via wtvox.com