Stephanie Nebenführ schreibt surreale Prosastücke ohne klassischen Plot. Der Stillstand während des Lockdowns inspirierte die Offenbacher Autorin zu einer bewegenden Anthologie. Ein Hausbesuch zur Frühstückszeit.

Ein Wohnzimmer mit ganz viel Vintage-Charme. An den Wänden hängen Ölgemälde mit Blumenmotiven, das größte zeigt eine Voralpenlandschaft. Auf dem Tisch vor dem Sofa liegt ein Puzzle aus den Siebzigerjahren. Die 1000 Teile setzen sich zu einer Stadtansicht von New York zusammen. Nur der riesige Flachbildfernseher – so ziemlich der größte, den wir in einem privaten Haushalt jemals gesehen haben – passt nicht so ganz ins Bild.

Er gehört Stephanie Nebenführs Mitbewohner, mit dem sie sich die Wohnung im Hochparterre eines Offenbacher Altbaus teilt. „Er hat mir erklärt, wie viel Pulver in den Kaffeebereiter kommt, ich trinke sonst immer nur löslichen Kaffee“, erzählt Nebenführ. Zur Begrüßung tischt sie uns Croissants und Apfeltaschen aus dem Penny um die Ecke auf. Vor dem Fenster, mit Blick auf den Bahndamm, regnet es Bindfäden. Drinnen ist es dafür umso gemütlicher.

Ein literarischer Text braucht nicht unbedingt einen Erzählplot

An der Offenbacher Hochschule für Gestaltung studiert Nebenführ „Freies Schreiben“ bei Frank Witzel, der 2015 den Deutschen Buchpreis gewann. „Von ihm habe ich gelernt, dass ein literarischer Text nicht zwingend einen streng komponierten Erzählplot braucht“, sagt sie. In ihrem Atelier, das sie in der Geleitstraße angemietet hat, ist sie nur selten anzutreffen. „Die Ruhe, die ich zum Schreiben brauche, finde ich am ehesten zuhause.“ Im prall gefüllten Bücherregal nehmen die Romane von Haruki Murakami, Paul Auster und Virginia Woolf einigen Raum ein. In zweiter Reihe stehen Schneider-Taschenbücher aus den Sechzigerjahren – „Hanni und Nanni“ zum Beispiel. Ihre eigenen Texte sind in Magazinen wie „Der Literaturbote“, „Der Schnipsel“ oder „Die ‘apostrophe“ erschienen.

Foto: Neven Allgeier

„Meine Geschichten starten oft in der Realität. Dann passiert etwas Unheimliches oder Merkwürdiges“, sagt Nebenführ. Auch ihr Text „Auf dem Wasser zu singen“ hat diesen surrealen Touch. Die Geschichte ist leicht und lakonisch erzählt – auch wenn im Kopf der Hauptfigur selbst die harmlosesten Ereignisse Katastrophenszenarios auslösen: Nüsse, die im Herbst von den Bäumen fallen, zum Beispiel. Oder nächtliche Geräusche, die der Boiler in der Küche macht. Die Erzählung ist Teil der Anthologie „Vom Warten auf das nächste Jahr – Deprivationen“, die Nebenführ vor kurzem im Frankfurter Verlag Edition Faust herausgegeben hat. Acht Autor*innen steuerten Texte bei, die alle während der Coronazeit entstanden sind. „Corona ist aber nicht das eigentliche Thema. Es geht eher darum, wie die Pandemie unseren Blick auf die Welt verändert“, erklärt Nebenführ.

Schon als Kind hatte sie den Wunsch, Schriftstellerin zu werden. Ihre ersten Texte handelten von einer Klassenkameradin mit dem Allerweltsnamen Maria S., der sie ein Doppelleben andichtete. „Tagebuch der Maria S.“ nannte Nebenführ das Werk. „Ich habe Zeitungsartikel gesammelt, in denen der Name in den unterschiedlichsten Zusammenhängen auftauchte. Da gab es zum Beispiel Schlagzeilen wie: Einbruch in der und der Straße, Maria S. verhaftet. Diese Artikel habe ich dann weitergesponnen.“

[...] Es geht eher darum, wie die Pande­mie unse­ren Blick auf die Welt verän­dert.

Stephanie Nebenführ
Foto: Neven Allgeier

Als Jugendliche setzte sie sich in den Kopf, systematisch Werke der Weltliteratur zu lesen. Eine folgenreiche Entscheidung: „Das war der Zeitpunkt, ab dem ich nicht mehr schreiben konnte. Im Vergleich mit den großen Autor*innen hielt ich meine Sachen für albern und peinlich.“ Nebenführ fiel es so schwer, anderen ihre Texte zu zeigen, dass sie schließlich auch ein Studium der Literaturwissenschaft und Geschichte abbrach. „Ich konnte mich einfach nicht überwinden, Hausarbeiten zu schreiben, weil ich Angst hatte, dass ich zu schlecht bin.“

Schreib­kurse stan­den damals noch nicht auf dem Lehr­plan

Später wechselte sie an die HfG. Eine Freundin hatte ihr zu diesem Schritt geraten. „Ich hatte immer schon lustige Zeichnungen und kleine Basteleien gemacht. Sie meinte: Wenn du all das zusammen mit deinen Texten in eine Bewerbungsmappe packst, könnte das richtig gut werden.“ Nebenführ wurde angenommen. Schreibkurse standen damals noch nicht auf dem Lehrplan. Das änderte sich, als Frank Witzel seine Professur für „Freies Schreiben“ antrat. „Da habe ich gemerkt, was mir die letzten zehn Jahre gefehlt hat.“ Neben Witzel gab auch die Autorin Olga Martynova Schreibkurse für die Student*innen. Die Gruppen waren klein, es herrschte eine ermutigende Atmosphäre. „Da habe ich gemerkt, dass die Welt nicht untergeht, wenn ich mit jemanden meine Texte teile.“

Foto: Neven Allgeier

Heute ist ihr der Austausch mit Gleichgesinnten enorm wichtig. „Gerade im ersten Lockdown, als noch kein Online-Unterricht organisiert war, hat mir das gefehlt“. Nicht nur an der HfG, sondern auch in der Textwerkstatt Darmstadt – einem Forum für junge Literatur – nimmt Nebenführ an Schreibseminaren teil. „Manche Gespräche sind so anregend, dass ich hinterher abends zwei Stunden lang wach liege, weil mir Ideen durch den Kopf gehen und ich mir unbedingt Notizen für einen neuen Text machen muss.“

Im kommenden Herbst wird Nebenführ ihr Diplom bei ihrem Professor Heiner Blum machen. Dafür schreibt sie gerade an einer Geschichte über ein Haus, das von einer eher dysfunktionalen Familie bewohnt wird. „Mich zieht es immer wieder zu den Momenten, wo es Personen nicht mehr so richtig gelingt, zu funktionieren“, erzählt sie. „Mich interessiert es generell, wenn etwas einen Bruch hat – zum Beispiel auch in der Musik. Da gefallen mir besonders die Stücke, in denen jemand immer ein paar Noten daneben liegt.“ Für die Zeit nach dem Diplom hat Nebenführ auch schon Pläne. „In den USA gibt es ein Promotionsstudiengang, der Creative Writing und Literaturwissenschaft miteinander verbindet. Man beendet ihn mit einer Doktorarbeit und einem Roman. Das finde ich toll.“

Manche Gesprä­che sind so anre­gend, dass ich hinter­her abends zwei Stun­den lang wach liege [...]

Stephanie Nebenführ
Foto: Neven Allgeier
MUST-READ

Vom Warten auf das nächste Jahr. Deprivationen

Mit Beiträgen von Yevgeniy Breyger, Nils Brunschede, Daniela Danz, Daniel Jurjew, Magdalena Kotzurek, Olga Martynova, Stephanie Nebenführ, Frank Witzel

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