Hannes Seidl komponiert Neue Musik für Solisten, Ensembles und Orchester. Außerdem schreibt er Musiktheaterstücke. Wir besuchen ihn dort, wo sein Klavier steht: In seiner Bockenheimer Wohnung.

Der Frankfurter Komponist Hannes Seidl empfängt uns im Wohnzimmer seiner Bockenheimer Wohnung, das ihm auch als Arbeitsplatz dient. Sein Studio unter dem Dach des Künstlerhauses Basis hat er vor rund einem Jahr aufgegeben. „Wenn ich nicht gerade auf einer Probebühne stehe, brauche ich lediglich einen Laptop mit Kopfhörern für meine Arbeit“, sagt Seidl. „Und natürlich mein Klavier, das im Nebenzimmer steht.“

Im Alltag teilt er sich das Wohnzimmer mit seinen beiden neun und zwölf Jahre alten Kindern. Bei einigen Gegenständen, die uns umgeben, ist nicht auf Anhieb klar, in wessen Zuständigkeitsbereich sie gehören: Die vier Acrylfarbtuben auf dem Tisch? „Sind von den Hausaufgaben übrig geblieben, die meine Tochter hier gestern gemacht hat“, sagt Seidl. Das Prince-Album, das auf dem CD-Stapel ganz oben liegt? „Gehört eigentlich mir, hat aber gerade mein Sohn für sich entdeckt.“

Seidl erzählt daraufhin vom Soundtrack seiner eigenen Kindheit in Bremen. „Meine Eltern sind beide Musiklehrer und typische Alt-68er. Neben Bach lief bei uns zuhause Mikis Theodorakis, Hanns Eisler und Konstantin Wecker.“ Für Popmusik sei er einfach nicht geschaffen gewesen, sagt Seidl erfrischend selbstironisch. „Mir fehlte es an Outfits, Coolness und Bühnenpräsenz – also an so ziemlich allem, was außer dem Sound sonst noch wichtig ist.“ Zum Glück gibt es dazu ja durchaus Alternativen.

Neben Bach lief bei uns zuhause Mikis Theodorakis, Hanns Eisler und Konstantin Wecker.

Hannes Seidl
Hannes Seidl © Foto: Neven Allgeier

Und so traf es sich prima, dass zu Seidls Jugendidolen neben Prince und Michael Jackson etwa auch Iannis Xenakis gehörte. Der griechische Komponist gilt als Klassiker der sogenannten Neuen Musik – einem experimentierfreudigen Genre, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufkam und musikalische Strukturen (Harmonie, Melodie, Takt) teils radikal revolutionierte. „Meine Klavierlehrerin hat mich als Kind zu einem ihrer Konzerte mitgenommen. Gegeben wurde ein Stück für sechs Schlagzeuge. Die Musik war mathematisch präzise, aber auch aggressiv, archaisch und brachial. Sie hatte eine Körperlichkeit, die mich enorm faszinierte“, erinnert sich Seidl, inzwischen 40 Jahre alt, an einen Schlüsselmoment seiner musikalischen Sozialisation.

Mathematisch präzise, aggressiv, archaisch und brachial: Seidl fasziniert die Körperlichkeit der Neuen Musik

Mitten im Gespräch werden wir plötzlich vom Pfeifen der Kaffeemaschine unterbrochen, die Seidl kurz in die Küche ruft. Mit dampfenden Tassen und einer Tüte Milch kehrt er zurück, um erst über sein Kompositions-Studium an der Folkwang Universität der Künste in Essen. („Der Unterricht war viel verschulter und strenger strukturiert als man es zum Beispiel von Kunsthochschulen kennt“) und dann über sein neustes Projekt zu reden.

© Foto: Neven Allgeier

Neben uns auf dem Tisch steht Seidls aufgeklappter Laptop. Der Bildschirm zeigt Noten für einen Blechbläsersatz. Die Musik gehört zum zweiten Teil einer Musiktheaterstück-Trilogie mit dem Titel „Stadt Land Fluß“, die Seidl zusammen mit dem Berliner Filmemacher und Regisseur Daniel Kötter auf die Beine stellt. Die Premiere von „Land“ ist zwar erst im September. Doch bereits am 30. Mai wird eine Woche lang Filmmaterial bei Runkel an der Lahn gedreht, das später auf der Bühne des Mousonturm zum Einsatz kommen soll.

Eine temporäre Kommune auf dem Land, mit Blaskapelle, Fanfare und viel Platz für Improvisation

Für jeden Drehtag hat Seidl einen groben Ablaufplan an die Tür zum Nebenraum ins Holz gepinnt. Weil dem Stück ein experimentelles Setting zugrunde liegt, bleibt viel Platz für Improvisation: „Wir errichten eine Art Kommune. Jeder, der will, kann mitmachen. Inhaltlich geht es um den Akt der Landgründung. Aber auch um die besondere Zeiterfahrung auf dem Land“, erzählt Seidl zwischen zwei Schlucken Kaffee. „Auch Leute aus dem Dorf sind dabei. Etwa eine Blaskapelle, die zu jeder vollen Stunde – die bei uns nach Vorbild des französischen Revolutionskalenders 100 Minuten dauert – eine Fanfare ausstößt. In der Zwischenzeit liegen die Musiker mit ihren Instrumenten auf der grünen Wiese und spielen eine endlose Melodie für sich selbst.“

© Foto: Neven Allgeier
© Foto: Neven Allgeier

Seidls Faszination für das Musiktheater wurde geweckt, als er nach Ende seines Studiums nach Gießen zog. Dort geriet er mitten in einen Kreis von Theaterleuten, die ihn inspirierten. Am liebsten arbeitet er für freie Bühnen wie zum Beispiel die Sophiensäle in Berlin, das Theater Rampe in Stuttgart oder eben den Frankfurter Mousonturm. „Dort kann ich viel selbstbestimmter agieren als etwa an einer staatlichen Oper, wo hinter jeder Produktion ein riesiger Apparat steht und einem eine Menge Leute reinreden wollen“, sagt er. „Ein Fünf-Stunden-Stück wie ‚Land‘ ließe sich an einer Oper nicht realisieren.“

Neben Stücken für das Musiktheater schreibt Seidl auch Musik für Solisten, Orchester (etwa das hr-Sinfonieorchester) und Ensembles (das Ensemble Modern). Außerdem produziert er Hörspiele für das Radio und übernimmt Lehraufträge an Hochschulen. Es ist ihm wichtig, gut vernetzt zu sein. Mit gleichgesinnten Musikern und Komponisten gründete er 2004 in Darmstadt, einer Hochburg der Neuen Musik, die Gruppe „Stock11“. „Es gab damals eine starke Tradition innerhalb der dortigen Musikszene gegen die wir antraten“, erzählt Seidl. „Das Establishment verstand Neue Musik als Fortsetzung der Klassik mit schrägen Tönen. Wir hingegen wollten eine wirklich Neue Musik, die alle Stilmittel und Klanggeber nutzt, die zur Verfügung stehen.“

Das Establishment verstand Neue Musik als Fortsetzung der Klassik mit schrägen Tönen. Wir hingegen wollten eine wirklich Neue Musik, die alle Stilmittel und Klanggeber nutzt, die zur Verfügung stehen.

Hannes Seidl
© Foto: Neven Allgeier

So kommen wir auf die radikale Position des Komponisten John Cage, einem Pionier der Neuen Musik, zu sprechen. Ihr zufolge ist jedes Geräusch, jeder Klang immer schon Musik. Seidl winkt ab. „Wenn Du an einer Straßenecke ein Auto hupen und einen Hund bellen hörst, dann hast du einfach bloß zwei beliebige Geräusche ohne jede Verbindung. Für mich braucht gute Musik einen inneren Zusammenhang und einen äußeren Rahmen“, sagt er – und erzählt von einem seiner Orchesterstücke, in dem er mit der Erwartungshaltung des Publikums spielt. Als Instrumente dienten ihm herabfallende Gegenstände, die sich mit Schlagzeugschlägen vereinten und zu einem Lärmgewitter anschwollen. „Dann gab es plötzlich eine Pause. In einem solchen Moment, der allerdings gut vorbereitet sein muss, empfindest du plötzlich alles als Musik. Jedes Räuspern, jedes Stühlerücken.“

© Foto: Neven Allgeier
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