Michael Lentz ist Lautpoet, Poetry Slammer und Professor für Literarisches Schreiben. Seine zentralen ästhetischen Kategorien lauten Energie und Intensität. Davon kann man sich am 14. April in der SCHIRN überzeugen.

Kaum eine Form literarischen Schreibens ist vor Michael Lentz sicher. Der 1964 in Düren geborene Autor und Dichter schreibt Erzählungen, Romane, Dramen, Lautgedichte und Hörspiele. Auch auf den deutschsprachigen Bühnen ist er ein gern gesehener Gast. Wer Michael Lentz schon mal bei einer Vortragsperformance erlebt hat, vergisst ihn so schnell nicht. Das liegt nicht allein an seinem rheinischen Zungenschlag, der alle vorgetragenen und vertraut geglaubten Wörter für den Zuhörer irgendwie anders, irgendwie neu erklingen lässt. Das hat auch mit seiner stattlichen Erscheinung zu tun, seinem kahlen Schädel und dem scharf geschnittenen Gesicht.

Quasi über Nacht wird Michael Lentz 2001 mit dem Text "Muttersterben" zum Shootingstar der deutschsprachigen Literaturszene. Er trägt ihn beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt vor und gewinnt den ersten Preis. Die Feuilletonisten des Landes überschlagen sich mit Lobeshymnen. In diesem Text verarbeitet er den Krebstod seiner Mutter. Der meistzitierte Satz daraus klingt humorvoll und traurig zugleich: "Bitte alle Düren schließen". Dass der Autor hier aus "Türen" "Düren" werden lässt, und damit auf seinen Geburtsort sowie die eigene Mutter hinweist, ist kein Zufall. Als experimenteller Dichter ist die Sprache sein Material und das bevorzugte Werkzeug im Umgang mit ihr der "anagrammatische Fleischwolf". Denn durch Vokal- und Buchstabenumstellungen schafft er ganz neue Worte wie "Busengier", "sinnoase", "Augentrost", "Nebelleichen" oder "Sprachloch", die die deutsche Sprache seitdem bereichern.

Die Sprache der Liebe und die Liebe zur Sprache

Lentz folgt den Worten, vertraut sich ihnen an und lässt sie sich aus- und versprechen. Sprache versteht er als Instrument. Aber nicht so sehr, um Bedeutung zu transportieren und in Kommunikation mit anderen zu treten. Vielmehr macht er sie zum Hauptdarsteller seiner Texte. Er spielt virtuos mit ihr und erinnert dabei an einen Jazzpianisten beim Improvisieren.

Der Schriftsteller beherrscht jedoch auch die leisen Töne. Das zeigt sich in seinem 2003 erschienen Erstlingsroman "Liebeserklärung". Er erzählt die Geschichte einer Trennung, einer neuen Liebe und einer Reise durch Deutschland. An einer Stelle des Romans heißt es: "Es fehlt die Sprache". Sie fehlt, um die Dinge beim Namen zu nennen, um das Scheitern einer Beziehung und den Verlust eines Menschen zu erklären. Doch am Ende bleibt sie die einzig (un)treue Gefährtin. Sprache ist Gestocher und Gestotter. Sie macht keinen Punkt und strebt immer weiter, um die Liebe und ihr Ende irgendwie in den Griff zu bekommen -- natürlich vergebliche Liebesmüh.

"Amerika ist Menschenfremde"

In "Pazifik Exil" aus dem Jahr 2007 setzt sich Lentz mit einem wichtigen Kapitel der deutschen Geschichte auseinander. In dem Roman geht es um die Exil-Erfahrungen von Autoren und Komponisten wie Bertolt Brecht, Franz Werfel, Lion Feuchtwanger, Arnold Schönberg, Thomas und Heinrich Mann an der amerikanischen Westküste. Lentz greift auf Tagebücher, Briefe, Romane und Gedichte der genannten Künstler zurück. Doch er spult das nicht einfach ab, sondern macht etwas Eigenes und Unnachahmliches daraus.

Im Zentrum steht die Frage, was in den Künstlern im kalifornischen Exil vorging. Lentz verleiht ihrer Existenz- und Sprachnot eine Stimme. Er gibt dem Leser Einblicke in deren Innenwelt und lässt ihn durch Selbstgespräche der Künstler, die manchmal heiter, manchmal peinlich und kleinlich erscheinen, an ihren Gedanken teilhaben. Doch eines macht der Roman vor allem deutlich: der Verlust der gewohnten Welt geht immer auch mit dem Verlust der eigenen Sprache einher. Selbst ein Wortriese wie Thomas Mann kann da plötzlich ganz kleinlaut klingen. Und dennoch lässt Lentz den "Goethe von Hollywood" Sätze sagen wie: "Es ist kein Verdienst, Deutschland verlassen zu haben, das ist Instinkt. Amerika ist Menschenfremde, die wenig haftende Eindrücke liefert. Das Brandmal ist längst im Geist, es würde also wenig helfen, es von der Haut zu entfernen. Amerika ist trotz allem keine Zukunft, und es hat keine Zukunft, die Vergangenheit ist das, was zählt, und die hat Amerika nicht zu bieten."

Lust am Chaos

Auch auf theoretischer Ebene kennt sich Lentz in Sachen Literatur aus. 1998 verfasst er seine Dissertation "Mediale Aspekte der Lautpoesie/-musik nach 1945". Im Jahr 2013 hält er dann an der Goethe Universität Frankfurt die Poetikvorlesung "Atmen Ordnung Abgrund". Dabei handelt es sich um sein Bekenntnis zur Rhetorik. Insgesamt teilt er die Vorlesung in fünf Kapitel auf: "Inventio", "Dispositio", Elocutio", "Memoria" und "Actio". Dahinter verbergen sich fünf klassische Formen, die zu jeder gelungenen Rede dazugehören. Lentz sagt von sich: "Ich bin ordnungsbesessen, kann aber keine Ordnung halten." Umso wichtiger ist für den Autor die Rhetorik, die ihm einerseits Halt bietet, aber auch Abgründe offenlegt, in die er sich als experimenteller Dichter mit großer Lust am Chaos hinunterstürzt.

Die erste Vorlesung beginnt mit einer Überraschung. Nach der Vorstellung des Universitätspräsidenten tritt nicht etwa Lentz ans Rednerpult, sondern sein Double Uli Winters, den viele der Zuhörer wohl zunächst für den Dichter selbst halten. Erst nach kurzer Zeit ergreift dann der eigentliche Gast das Mikrofon. Solche Slapstickeinlagen streut Lentz immer wieder gern in seine öffentlichen Auftritte ein. Es kann auch schon mal vorkommen, dass er ein Gedicht von Walther von der Vogelweide im mittelhochdeutschen Original vorliest, während sein Kompagnon Winters, der ebenfalls aus Düren stammt, im Hintergrund in einem schwarzen Trikot dilettantisch und geradezu lächerlich Ballett tanzt. Lentz mag es, wenn das Publikum durch solche Skurrilitäten irritiert reagiert.

Rhetorik bezeichnet er auch als eine "Ästhetik des Recycelns". Es geht um Nachahmung und das Studium von Exempla: "Quellenforschung ist eine Gewissensfrage, man kann nicht so naiv sein zu glauben, man könne alles aus sich heraus entwickeln und dann noch der Überzeugung sein, es sei auf eigenem Mist gewachsen." Hier kann auch eine Verbindung zu den Affichisten aus Paris und Rom gesehen werden, die zurzeit in der SCHIRN ausgestellt werden. Denn auch sie entwickeln nicht alles aus sich selbst heraus, sondern greifen auf Plakate im öffentlichen Raum zurück, ziehen sie von den Wänden ab und verwandeln sie zu Kunstwerken. Ihrer Funktion als Werbeplakate beraubt, rücken durch die Eingriffe der Künstler plötzlich die Farben, Formen und natürlich auch die Wörter in den Vordergrund.

Heraufbeschwörung von Geistern

Bei seiner Vortragsperformance in der SCHIRN "Stimmenfang. Selbtverhöhr mit fremden Federn" wird sich Michael Lentz auch in den Dienst anderer Dichter stellen und sie -- wie Geister -- heraufbeschwören. Die Vortragsperformance ist eine Mischung aus Ausführungen zur Geschichte der Lautpoesie und Aufführung fremder und eigener Texte. Sie besteht aus Spiel und Ernst, lauter und leiser Poesie.Lentz wird akustische Gedichte von französischen Künstler-Poeten wie François Dufrêne, Isidore Isou, Maurice Lemaître oder Gil J Wolman zum Besten geben. Doch auch deutschen Dichtern wie Herbert Behrens-Hangeler, Ernst Jandl, Gerhard Rühm und Josef Anton Riedl, die zur Zeit der Affichisten die eigene Sprache auf den Kopf gestellt haben, wird er die Ehre erweisen. Ausklingen wird der Abend mit einer Live-Aufführung eigener akustischer Poesie. Ein Sprachspektakel wird der Abend mit Sicherheit.