Walker Evans gehört zu den einflussreichsten Fotografen des 20. Jahrhunderts. Mit seinem Werk prägte er den „dokumentarischen Stil“, der Schule machen sollte. Sein Spätwerk ist ein unerschrockener Blick in die Zukunft.

Von den späten 1920er-Jahren bis zu den frühen 1970er-Jahren entstand ein Oeuvre, das einen Blick auf das moderne Amerika warf, wie es im kollektiven Gedächtnis bis heute verhaftet ist. Evans ist nicht nur berühmt für die Aufnahmen, die im Auftrag der Farm Security Administration entstanden, diese einfühlsamen Bestandsaufnahmen des Lebens zu Zeiten der Großen Depression auf dem amerikanischen Lande. Er war der erste Fotograf, dem das Museum of Modern Art 1938 eine monografische Ausstellung widmete. 

Evans puristischer Stil, seine technische Perfektion und strenge Kompositionen machten viele seiner Bilder zu tief beeindruckenden Aufnahmen. Walker Evans ist ein Chronist des modernen Amerika. Er hatte diesen Blick auf die Gegenwart, als wäre sie bereits Vergangenheit. Er schuf bleibende Eindrücke, gültige Aussagen.

Er nimmt noch vor Pop Art einen Trend vorweg, der bis heute die Kunst bewegt

Immer wieder zog es ihn an den Rand des glitzernden Wohlstandes. Von den späten 1920er- bis zu den frühen 1970er-Jahren fing Evans das „normale“ amerikanische Leben und seine Bedingungen ein. Er fand es im Einfachen und Gewöhnlichen. An Straßenständen, billigen Cafés, kleinstädtischen Hauptstraßen oder Schlafzimmern fing er die Atmosphäre ein, die seine Arbeiten so unverkennbar macht. Oft ein wenig poetisch aber stets präzise, direkt und scharf, hinterließ er eine nahezu enzyklopädische visuelle Zustandsbeschreibung der amerikanischen Gesellschaft, porträtierte Baumwollbauern, Kriegsveteranen, dokumentierte Autokult und Industriestädte, fotografierte Fast Food und Straßenschilder. Werbung, Typographie und Hinweistafeln faszinierten ihn, die vermeintlich beiläufigen Zeitzeugnisse, die uns so viel verraten. Mit seinem Interesse für Massenprodukte nimmt er noch vor Pop Art einen Trend vorweg, der bis heute die Kunst bewegt.

Mehr als 2650 Polaroids

1973, 70 Jahre alt und 14 Monate vor seinem Tod, kaufte er sich eine Polaroid SX-70 Kamera. Die Kamera war gerade auf den Markt gekommen, klein und handlich produzierte sie farbige Sofortbilder, Unikate. Die Reihe von mehr als 2650 Polaroids, die zwischen September 1973 und November 1974 entstand, ist das letzte Zeugnis, das Evans uns hinterlassen hat. Wieder ist er einen Schritt voraus. 

Mit diesem Medium konzentrierte Evans Fotografie auf seine absolute Essenz: die Kunst des Sehens, Auswählens und Festhaltens. Die Polaroid Kamera, die alles festhielt, auf das man sie richtete, deren Ergebnis man weder manipulieren noch vervielfältigen konnte, bedeutete für Evans eine Herausforderung, die ihn belebte wie ein später Frühling. Die Unmittelbarkeit der Sofortbildkamera war eine Kür. Evans Polaroids sind das konzentrierte Wissen, die pure Erfahrung, die klarste Sicht dessen, was nötig, wichtig, gut ist. Bewusst setze er sich der Endgültigkeit einer Aufnahme aus und bewies am Ende seines Lebens noch einmal eindrücklich, dass er beherrschte, was er gelehrt hatte - durchdachte Fotos zu machen und keine Schnappschüsse zu sammeln.

Die SX-70 erfasste die Dinge so, wie sie waren: einfach

Mit der Polaroid Kamera spielte Evans noch einmal seine Hauptmotive durch und stellte scharf auf die scheinbar beiläufigen Dinge des Lebens: Straßenmarkierungen, zertrampelte Blechdosen, verwitterte Holzpflöcke, Schaufensterauslagen. Die SX-70 erfasste die Dinge so, wie sie waren: einfach.

Teilansichten von Fahrbahnmarkierungen und Hausbeschilderungen reduzierte er bis zur Abstraktion und verdreht das Wesentliche an ihnen, die Aussage, damit zum Absurden. Aus verkürzten grafischen Formen werden geistreiche eigenständige Bilder. Sein später Blick auf die Dinge ist unerschrocken und richtungsweisend.

Seine Polaroids sind kraftvoller Ausdruck seiner steten Suche nach Poesie im Alltäglichen 

Evans Polaroids sind weit mehr als nur flüchtige Aufzeichnungen, verdichtet sich doch jede einzelne Aufnahme zu einem in sich stimmigen Bild. Sie sind kraftvoller Ausdruck seiner steten Suche nach Poesie im Alltäglichen. Bis zuletzt.  

Mit dem Wissen, dass es seine letzten Bilder sind, suchen wir Anzeichen von Loslassen und Melancholie, doch sie sind voller Kraft und frischem Geist. Evans hat sich bis zuletzt seinen Blick für die Gegenwart bewahrt und damit in die Zukunft gewiesen.