Die Stadtansichten Caillebottes sind für ihre Zeit ungewöhnlich radikal. Fast scheint es, als habe sich der Maler von Fotografien des „Neuen Sehens“ inspirieren lassen – doch die entstanden erst fünfzig Jahre später.

Die älteste Fotografie der Ausstellung, gleichzeitig eine der allerersten Panorama-Aufnahmen überhaupt, zeigt den ältesten Teil von Paris: die Ile de la Cité. Die um 1855 entstandene Aufnahme stammt aus dem berühmten Atelier der Brüder Bisson. Sie steht in der Tradition älterer Panorama-Ansichten von Städten, wie man sie bereits von den Kupferstichen des Matthäus Merian kennt. In den Anfängen der 1838 erfundenen Fotografie werden häufig Aufnahmen aus oberen Stockwerken gemacht. Dort oben gab es viel Licht, was die noch langen Belichtungszeiten verkürzte.

Den Blick von oben scheut auch Gustave Caillebotte nicht. In seinem Gemälde „Boulevard des Italiens" von 1880 zeigt er die eleganteste Straße der damaligen Zeit. Aber anstelle eines weiten Panoramas wie bei den Brüdern Bisson sehen wir hier ausschließlich eine Straße. Caillebotte war beeindruckt vom haussmannisierten Paris. Jenem Paris, das durch Napoleon III. und seinen Präfekten Baron Haussmann in einer Geschwindigkeit zur modernsten Metropole der damaligen Zeit umgestaltet wurde, wie man sie heute nur aus China kennt. Als einer der ersten zeigt Caillebotte das „neue" Paris, und das in einer ganz und gar unkonventionellen Weise.

Ein schräger Blick

Ohne sich an damals gängige Vorstellungen von Bildaufbau und Perspektive zu halten, malt Caillebotte die herbstliche Straße in einer Mischung aus extremer Nahsicht (das schmiedeeiserne Balkongitter rechts im Bild) und Fernsicht. Fast brutal schiebt sich von links die gegenüberliegende Häuserflucht ins Bild. Darunter schließen sich die dynamisch nach oben strebenden Diagonalen des Gehwegs und der Straße an. Vom Grundriss stark an barocken Gartenanlagen orientiert, die von bis an den Horizont reichenden Sichtachsen geprägt waren, bieten die neuen Pariser Straßen und Plätze tatsächlich solche Seheindrücke.

Eine so dynamische Wirkung wie Caillebottes Gemälde entfaltet die zeitgenössische Fotografie allerdings nicht. Am ehesten gelingt dies vielleicht einige Jahre später Henri Rivière, der als Kind einen Fotoapparat geschenkt bekam um in Folge einige Bilder zu machen, die Fotogeschichte geschrieben haben, wie etwa die Aufnahme seiner Mutter auf einem Balkon stehend. Hier liegt der Schwerpunkt allerdings auf der Mutter und kaum auf der Straße.

Ein Neues Sehen

Es sind neue Blickwinkel aus denen Caillebotte seine Welt, das elegante neue Paris, zeigt. Er komponiert seine Gemälde so, wie erst 50 Jahre später Fotografen wie André Kertész, László Moholy-Nagy, Ilse Bing und Umbo ihre Fotografien. Neue technische Möglichkeiten wie lichtempfindlichere Filme und neuartige Kameras ermöglichten den Fotografen des Neuen Sehens, festgefahrene Kompositionsregeln aufzubrechen. Moholy-Nagy war der Meinung, ein neues Sehen führe zu einem neuen Bewusstsein.

Seine Fotografie „Marseille" von 1928 zeigt einen fragmentierten Blick durch ein schmiedeisernes Balkongitter auf die Straße. Betrachtet man daneben Caillebottes „Blick durch ein Balkongitter", könnte man den Eindruck haben, die Aufnahme des ehemaligen Bauhaus-Lehrers sei eine Inspirationsquelle für Caillebotte gewesen. Das Gemälde entstand allerdings 48 Jahre früher. Ein schwarzes Balkongitter und die spitzen grünen Blätter einer Topfpflanze geben den Blick auf eine darunter liegende Straße frei.

Schöne neue Welt

Caillebotte war von der modernen Welt fasziniert. Er wohnte direkt an der neuen Oper, inmitten all dem Neuen. „Eine Verkehrsinsel, Boulevard Haussmann" zeigt den etwas verzerrten Blick auf die heute nicht mehr existierende Verkehrsinsel der Place Diaghilev. Interessant an der Leinwand ist weniger die skizzenhaft-nachlässige Malweise, als vielmehr Komposition und Bildausschnitt. Der Platz ist schräg von oben wiedergegeben und ein wenig überzeichnet, womit er leicht nach vorne zu kippen droht.

Wie mit einem Teleobjektiv zoomt Caillebotte ins Geschehen hinein, wir sehen außer Straße, Trottoir und Laternen keine Gebäude und wissen doch wie die Umgebung aussehen mag. Einzelne Männer mit Zylindern führen ihre Schatten spazieren. Als Gruppe angedeutet sind zwei schwarz gewandete Frauen -- keine ehrbare Frau hätte die Straße alleine betreten -- doch sie fallen kaum auf. Und wieder zeigt sich Caillebottes Tendenz zum geometrischen Bildaufbau.

52 Jahre nach der Schrägsicht auf die Place Diaghilev fotografiert Ilse Bing Paris auf eine Weise, wie sie Caillebotte wohl gefallen hätte: „Schatten, Avenue du Maine" ist durch die beiden Rechtecke von Straße und Gehweg strukturiert und durch die kahlen Bäume rhythmisiert. Rechts unten sind drei Passanten, eine Frau und ein Kind sowie ein Mann und ihre langen Schatten. Was Caillebotte in der Malerei bereits 1880 zeigt, wird so erst in der Fotografie des Neuen Sehens in den 1920er- und 1930er-Jahre virulent. Doch auch wenn es visuelle Ähnlichkeiten gibt, ist es unwahrscheinlich, dass die späteren Fotografen direkt von Caillebotte inspiriert waren: Zeit seines Lebens hat der Maler nur zwei Werke verkauft und diese ganz schnell wieder zurückgekauft. Erst nach dem Tode seines Bruders Martial begann sich die Familie langsam von einzelnen Werken zu lösen und sie einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.