Der französische Affichist widersetzt sich dem Primat der Technik, verweigert sich dem Kunstbetrieb und delegiert den künstlerischen Prozess an andere. Als ein Vorläufer der Street-Art macht er die Poesie der Mauern zu seinem Werk.

In einer Zeit als die abstrakte Malerei in der (französischen) Kunst die Vorherrschaft Inne hatte, begab sich der dreiundzwanzigjährige Raymond Hains (1926-2005) in ein malerisches Abenteuer und entdeckte zusammen mit dem gleichaltrigen Jacques Villeglé die "Poesie der Mauern". Sie blicken auf die Pariser Plakatwände, wie auf Gemälde. Sie werden zu Zeugen der Kunst anderer -- der anonymen Wut von Passanten, der Arbeit der Plakatkleber und Werber, den Unbillen des Wetters -- und machen sie zur ihrer. Die Arbeiten sind keine bloßen objets trouvés mehr. Die Zeit und die anonyme Aktion, das Prozesshafte ist ihnen eingeschrieben. "Meine Werke existierten vor mir, vor meinem Einwirken, aber niemand sah sie", sagte Hains. Das erste gemeinsame Werk der Freunde, zugleich die erste Decollage der Kunstgeschichte, ist die Arbeit "Ach Alma Manetro".

Hierfür haben die Künstler im Februar 1949 in der Nähe des Restaurants La Coupole am Montparnasse in Paris Plakatfetzen einer Konzertwerbung eingesammelt und es im Atelier auf eine Leinwand collagiert. Der Titel der Arbeit bildet sich aus einigen zerrissenen Worten am unteren Bildrand: "Ach" vom Komponisten Bach, "Alma" als Ort der Aufführung des Konzerts und "Manetro" als Wortmix aus verirrten Buchstaben. Hains erhebt die 58 auf 256 Zentimeter große Arbeit selbstbewusst zum neuen Teppich von Bayeux.

Der um 1070 entstandene und über 68 Meter lange Teppich von Bayeux, der auch "Bildteppich der Königin Mathilda" genannt wird, ist eine der denkwürdigsten Bilddenkmäler des Hochmittelalters. Die Stickarbeit erzählt die Eroberung Englands durch den Normannenherzog Wilhelm den Eroberer (1027/28-1087). Zwar hinkt der Vergleich, doch betrachtet man das Ausgangsmaterial der Affichisten, die Plakate, als Bildzeugnisse ihrer Zeit, mag man die Frechheit durchgehen lassen. Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit lässt allerdings trotzdem noch auf sich warten. Erst 1957 werden Hains und Villeglé die Möglichkeit haben, ihre Werke in einer Ausstellung zu präsentieren. Die Schau trug den Titel "Loi du 29 juillet 1881" und bezog sich damit auf das Gesetz über die Plakatierung im öffentlichen Raum. Danach werden sie, die mittlerweile solo arbeiten, regelmäßig mit Ausstellungen bedacht.

Kennengelernt haben sich Raymond Hains und Jacques Villeglé an der École des Beaux Arts in Rennes. Hains besuchte ab 1945 den Skulpturen-Kurs, blieb aber nur ein halbes Jahr -- war ihm der Lehrbetrieb zu angestaubt? Zunächst wendet sich Hains der Fotografie zu, die er mit Hilfe von selbstgebauten Objektiven aus geriffeltem und strukturiertem Glas, dem Hypnagogoskop, anfertigt. Der Name des Objektivs soll an den geistigen Zustand des Tagträumens appellieren. Es entstehen zerborstene, Kaleidoskop-artige Bilder, die einerseits in der Tradition von Dada und Surrealismus stehen, darüber hinaus aber mit ihren psychedelischen Momenten auf die Kunst der 1970er-Jahre voraus weist.

Über Villeglé lernt Hains 1948 den Dichter und Maler Camille Bryen (1907-1977) kennen, der zusammen mit dem deutschen Künstler Wols (1913-1951) zum Wegbereiter der Kunstrichtung des Informel werden sollte. Bryen hatte eine Reihe phonetischer Poeme, die aus frei erfunden Worten bestehen und die Sprache auflösen, in einem schmalen Gedichtband "Hepérile" herausgegeben. Mit dem Hypnagogoskop wandeln Hains und Villeglé den Band in ein visuelles Gedicht um. Es entstehen vollends aufgelöste und zersetzte Worte, die sie als "Ultra-Lettres", als "Über-Buchstaben" bezeichnen: das erste Gedicht zum "ent-lesen" -- "le premier poème à dé-lire" --, wie es Camille Bryen nannte.

Wie zahlreiche andere waren Hains und Villeglé von den Scherenschnitten Henri Matisses beeinflusst. Sie fertigten eine Reihe an Scherenschnitten an, die sie mit dem Hygnagogoskop abfilmten, um daraus den Film "Pénélope" zu machen. Das ganze Unterfangen, das noch deutlicher aufgelöste, zerborstene, Kaleidoskop-artige Bildwelten zeigt als Hains Fotografien es tun, erwies sich letztlich als zu aufwendig. Erst für eine Ausstellung im Centre Pompidou im Jahr 2001 konnte das Filmprojekt zu einem Abschluss geführt werden.

Hains bezeichnete sich selbst als "in-action-painter", als einen Maler der keine eigene Technik und Handschrift mehr ins Bild einwirken lässt. Ein Maler, der vorgefundene oder entwendete Plakatabrisse zu neuen, zeitgemäßen Tafelbildern erklärte; dem die Straße zum erweiterten Atelier wird: "Mon atelier, c'est la rue." Seine Arbeiten folgen dem Prinzip des objektiven Zufalls, wie er auch im Surrealismus verfolgt wurde. Ab 1959 wird Hains Plakatfragmente samt ihres Trägermaterials, sei es Holz oder Metall, zusammensuchen und damit einen Dialog zwischen dem Bildgrund und den darauf haftenden Farben herzustellen.

Hains, der für seine Wortspiele berühmt war, dekonstruierte mit seinen Décollagen die Autorität herrschender Diskurse. Ob es nun die im Westen damals alles beherrschende Abstraktion war oder die Koloniale Frage in Frankreich. So entsteht von 1950 bis 1961 seine zwanzigteilige Serie "La France déchirée", "das zerrissene Frankreich". Darin bezieht sich Hains auf das düstere Kapitel des Algerienkrieges, der nach damals offizieller Lesart überhaupt nicht stattfand: Algerien wurde von der französischen Regierung als integraler Bestandteil angesehen. Und gegen sich selbst konnte Frankreich schließlich keinen Krieg führen. 1961, ein Jahr vor Algeriens Unabhängigkeit, stellte er seine Serie politischer Arbeiten aus, wobei der Künstler felsenfest behauptete, keine politische Stellungnahme einnehmen zu wollen. Wenn Frankreich in Algerien keinen Krieg führte, dann war Hains in "La France déchirée" eben nicht politisch, n'est-ce pas?

Zugleich verweigerte Hains den Verkauf dieser Serie, denn Frankreich stehe nicht zum Verkauf: "La France n'est pas à vendre." Mit dieser Verweigerung gegen den Markt brachte er ästhetische und ethische Anforderungen in Einklang und stellte die Frage nach dem Stellenwert des Kunstwerks neu. So verlieh Hains seinen Arbeiten wahrhaft Unabhängigkeit und eine kritische Macht. Später wird sich der frühere Affichist fragen, ob Künstler nicht eine Art Werbeplakat für ihr Land seien: „L'artiste est-il une affiche de propagande pour son pays?" 

Mehr über die POESIE DER GROSSSTADT erfahren mit dem Film zur Ausstellung: