Erstmals in Europa präsentiert die SCHIRN ab dem 20. Juni 2013 das Œuvre des US-amerikanischen Fotografen Philip-Lorca diCorcia in einer Überblicksausstellung.

Philip-Lorca diCorcia (*1951) gehört zu den bedeutendsten und einflussreichsten Fotografen unserer Zeit. Seine Bilder schweben zwischen alltäglichen Momenten und detailreich inszenierten Arrangements. Die realitätsnahe Wiedergabe und der scheinbar dokumentarische Blick werden in den Arbeiten des in New York lebenden Künstlers von einer höchst aufwendigen Bildregie unterwandert. Die Frage nach der Möglichkeit der Abbildung von Realität ist eines der Hauptthemen diCorcias und verbindet die überwiegend in Serien entstandenen Fotografien miteinander. So nahm er für „Hustlers" (1990--1992) männliche Prostituierte in minutiös inszenierten Settings auf, während er in seiner wohl bekanntesten Serie „Heads" (2000--2001) Passanten völlig ahnungslos in einer Alltagssekunde festhielt. Neben den Werkgruppen „Streetwork" (1993--1999), „Lucky 13" (2004) und „A Storybook Life" (1975--1999) wird die in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler konzipierte Ausstellung in der SCHIRN auch erstmals Arbeiten des momentan in Entstehung begriffenen Projekts „East of Eden" (2008‒) der Öffentlichkeit präsentieren.

Philip-Lorca diCorcia wurde 1951 in Hartford, Connecticut, geboren. Von 1972 bis 1975 studierte er an der School of the Museum of Fine Arts in Boston, bevor er 1979 an der Yale University den Master of Fine Arts in Fotografie erwarb. Der Fotograf gilt als einer der wichtigsten amerikanischen Künstler seiner Generation. Beginnend mit den aktuellsten Werken aus der noch unabgeschlossenen Serie „East of Eden" führt die insgesamt 124 Arbeiten umfassende Ausstellung durch sechs Werkgruppen zurück zum Anfang: zu „A Storybook Life" (1975--1999). Die Sammlung von Porträts, Landschaften, Interieurs, Stillleben, Schnappschüssen und Reisefotografien umreißt einen Zeitraum künstlerischen Schaffens von mehr als zwanzig Jahren. Die Zusammenstellung dieser weitreichenden Serie ist nicht streng chronologisch oder einer logischen Narration folgend geordnet. Einzig die Titel der Bilder geben Auskunft über das Entstehungsdatum und den jeweiligen Ort. Dennoch spannt das komplexe Geflecht der spezifischen Bildwelten einen emotional aufgeladenen Erzählbogen.

Für die Serie „Hustlers" (1990--1992) fotografierte diCorcia männliche Prostituierte rund um den Santa Monica Boulevard in Hollywood. Sowohl Position und Setting als auch die begleitenden Lichtverhältnisse der Protagonisten sind vom Künstler sorgsam inszeniert. Die Titel der jeweiligen Werke verweisen auf Name, Alter und Herkunft der Prostituierten sowie die Summe, mit der sie von diCorcia für das Posieren entlohnt wurden und die sie in der Regel für ihre sexuellen Dienstleistungen erhalten. In Los Angeles, der Traumfabrik Hollywoods, in Szene gesetzt, werden die Männer berührende Darsteller ihrer eigenen verlorenen Träume.

Die Straßen von New York, Tokio, Paris, London, Mexiko City oder Los Angeles sind Schauplatz für diCorcias Serie „Streetwork". In den zwischen 1993 und 1999 entstandenen Werken gehen Passanten auf dem Weg nach Hause, zur Arbeit, zum Sport oder zum Einkaufen in die Fotofalle des Künstlers: Nichtsahnend durchschreiten sie das von diCorcia arrangierte Blitzlichtsystem. An einem bestimmten Punkt löst der Fotograf aus. So ergibt sich ein sogenannter „frozen moment". DiCorcia lässt im Getümmel der Großstadt die Zeit stillstehen und rückt Individuen und Menschengruppen ins Zentrum des Geschehens. Ähnlich wie in seiner Serie „Hustlers" zählt hier nicht der dokumentarische Charakter des Werkes, diCorica wirft vielmehr die Frage auf, was Realität ist.

Der Künstler verstärkt diese Fokussierung auf den Einzelnen in der darauffolgenden Serie „Heads" (2000--2001), für die er aus dreitausend Fotos eine Auswahl von insgesamt 17 Köpfen getroffen hat. Der Blick des Betrachters wird auf das Gesicht des Passanten fokussiert, das durch die Beleuchtung und den Bildausschnitt ins Zentrum des Bildes rückt. Der Rest bleibt im schemenhaften Dunkel. Die Individuen -- eine junge Frau, ein Tourist, ein Mann mit Anzug und Krawatte -- erscheinen sonderbar isoliert, fast einsam. Ihr Blick wirkt entrückt. DiCorcia kehrt das Innere nach Außen und enthebt das Individuum für einen kurzen Moment der Masse. Der Künstler erzeugt eine tiefgreifende Intimität. DiCorcia geht mit „Streetwork" und „Heads" einen ganz eigenen Weg der Straßenfotografie, die in Amerika mit Walker Evans, Robert Frank oder Diane Arbus auf eine lange Tradition zurückblickt. Der Künstler erfindet den scheinbar zufälligen Augenblick neu und transferiert ihn in das aktuelle Zeitgeschehen.

Die durch dramatische Lichtgebung erzeugte malerische Qualität von diCorcias Arbeiten wird besonders in der 2004 entstandenen Serie „Lucky 13" deutlich. Der Künstler hält die athletischen, nackten Körper von Stangentänzerinnen (Poledancern) mitten in einer fallenden Bewegung im Bild fest. Durch die starke Beleuchtung der Frauen und den fast schwarzen Hintergrund erhalten sie eine skulpturale Plastizität und scheinen wie in Stein gemeißelt. Obwohl der Serientitel „Lucky 13" -- eine amerikanische Redensart, um Unglück abzuwehren -- auf das zwielichtige Milieu von Stripbars verweist, strebt der Künstler weder eine Sozialstudie an, noch zelebriert er Voyeurismus. Vielmehr werden die Darstellerinnen zu Metaphern von Vergänglichkeit, Glück oder dem Moment des Absturzes. Das Bild des „gefallenen Engels" drängt sich auf.

Ein religiöser Ansatzpunkt findet sich auch in den jüngsten Werken diCorcias, der in Entstehung begriffenen Serie „East of Eden" -- die im Katalog der Ausstellung erstmals publiziert wird. Neben der biblischen Inspiration, die der Titel unterstreicht, lässt sich darüber hinaus ein literarischer Konnex zum gleichnamigen Roman von John Steinbeck herstellen. Dieser erzählt in Anlehnung an den biblischen Bruderkrieg zwischen Kain und Abel eine amerikanische Familiensaga von den Jahren des Bürgerkriegs bis zum Ersten Weltkrieg. DiCorcia bedient sich in seiner Motivwahl ikonografischer Bildwelten: ein Apfelbaum in verlockender Pracht, ein blindes Ehepaar am Esstisch, eine in unendliche Weiten führende Landschaftsaufnahme.

Intensiv beschäftigt sich DiCorcia in seinem Werk mit dem Motiv der Figur. Seine verdichteten Kompositionen zeichnen sich durch einen Nicht-Dialog von Mensch und Umgebung beziehungsweise einzelner Protagonisten miteinander aus. Die in den meisten Serien in kompositionellen Variationen festgehaltenen Motive weisen malerische Qualitäten auf. Subtil konzipiert und auf eine komplexe Lichtregie zurückgreifend manifestieren die Bildwelten des Amerikaners gesellschaftliche Realitäten in einer nahezu poetischen Weise. Die emotional und narrativ aufgeladenen Werke sind komplexe Geflechte ikonografischer Andeutungen und Abbildungen vor allem der amerikanischen Gegenwartsgesellschaft