Nach seiner Abkehr vom Abstrakten Expressionismus experimentierte Philip Guston in Tusche-Zeichnungen mit den Versen junger US-amerikanischer Dichter. Seine selten gezeigten „Poem-Pictures“ sind jetzt in der SCHIRN zu sehen.

Worte flirren über das Papier, sie sind in schwarzer Tusche gezeichnet, nicht geschrieben. Auf Philip Gustons „Poem-Pictures“ werden sie ganz Bild. Sie verzahnen sich mit seinem visuellen Repertoire der 1970er-Jahre: mit ausgelatschten Schuhen, Einäugigen mit Bartstoppeln, Kaffeebechern, Glühbirnen, dampfenden Zigaretten. In seinem Exil in Woodstock, fern von der New Yorker Kunstszene, mit der sich überworfen hat, malt er jetzt Objekte und Figuren statt abstrakt expressionistisch. Er tauscht sich intellektuell lieber mit Dichtern als mit den Malern aus, trifft Clark Coolidge, Bill Berkson, William Corbett und Stanley Kunitz. Seine Frau Musa McKim ist mit ihm nach in Woodstock gekommen, auch sie ist Dichterin.

Guston entwickelt ein neues Format. Die „Poem-Pictures“ treiben den Bruch mit der abstrakten Malerei auf die Spitze. Es ist ein Frontalangriff gegen die Unantastbarkeit von Farbe und Fläche. Gedichte von Coolidge, Corbett und anderen gesellen sich zu den Figuren. Die Zeichnungen geben einen einmaligen Einblick in die Gedankenwelt des Künstlers. In Ausstellungen wurden sie bisher dennoch nur selten berücksichtigt, die Schau in der SCHIRN ist die erste institutionelle Ausstellung, die sie zusammen mit seinen großformatigen Gemälden zeigt.

„One must become supersaturated in memory before one can recognize the unknown“

Besonders häufig ist Clark Coolidge zu Besuch in Woodstock. Die beiden Männer schauen sich gemeinsam stundenlang Bilder an, essen, trinken, rauchen, inspirieren sich gegenseitig. Coolidge habe über eines von Gustons Bildern mal gesagt, dass es aussehe, als sei jemand da gewesen und habe die Objekte zurückgelassen, erzählt der Maler, eine Reaktion wie diese sei ihm lieber als ein Satz wie „Das Grün funktioniert, das Blau nicht“. An Bill Berkson schreibt er 1973: „Offenbar gibt es ein großes Netzwerk junger Dichter, wie wunderbar, ich könnte nun für immer malen und zeichnen!“

Der intellektuelle Austausch treibt Guston an, es entsteht ein ganzes Konvolut an „Poem Pictures“. Auf einem der Bilder starrt Gustons typischer Einäugiger mit in Falten gelegter Stirn nachdenklich in die Luft. Der Betrachter sieht ihn nur im Profil, über den Bartstoppeln dampft eine Zigarette, eine Glühbirne hängt von oben in das Bild hinein. Unter der Zigarette hat Guston ein Zitat aus einem Gedicht Coolidges platziert. Der Vers beginnt mit den Worten „One must become supersaturated in memory before one can recognize the unknown (das Gedächtnis muss völlig übersättigt sein, erst dann kann man das Unbekannte erkennen)“. Guston und Coolidge setzen sich mit philosophischen Fragen auseinander, integrieren Fragmente ihrer Gedanken in ihre Werke.

„He was least me as we looked each other in the eyes“

Guston zerlegt manche Gedichte Coolidges, andere lässt er intakt, schreibt sie als Ganzes auf. Der Dichter schreibt von Gustons Gemälden inspirierte Gedichte, Verse daraus überführt Guston wieder zurück in seine Zeichnungen. Coolidge hatte schon in den späten 1960er-Jahren einen visuellen, fast abstrakten Stil entwickelt, verteilte Wörter frei über die Seiten, stellte die Materialität von Sprache in den Vordergrund und ließ einzelne Substantive hervortreten wie Guston seine Objekte und Figuren.

Schon lange vor seiner intensiven Auseinandersetzung mit jüngeren Strömungen der US-amerikanischen Dichtung hatte Guston Inspiration in der Literatur gefunden. Er las etwa Kafka, Beckett, Gogol und Dostojewski. Zu seinen wichtigsten Inspirationsquellen zählten die Werke des Dichters und Kulturkritikers T.S. Eliot, der mit seinen Versepen „The Rock“ (1934), Gustons favorisiertem Eliot-Werk, und „The Waste Land“ (1922) meisterhaft die Vereinzelung des Menschen in der Moderne erfahrbar machte. Für letzteres hatte sich Eliot ebenfalls bei den Versen anderer bedient, William Shakespeare und Richard Wagner verarbeitet.

In einer im Dialog mit Versen von Coolidge entstandenen Zeichnung Gustons stehen sich zwei Einäugige gegenüber. „I met myself in a dream (Ich traf mich selbst in einem Traum)“ ist ganz oben zu lesen, Coolidges Gedicht steht über einem Kopf, Linien und Tintenflecke schweben über dem anderen. Sie erinnern an Gustons abstrakte Arbeiten aus den 1950er-Jahren. Das Selbstporträt erzählt von der Metamorphose seines Schaffens und schlussfolgert: „He was least me as we looked each other in the eyes (In seinen Augen sah ich, er war kaum ich)“.