Giorgio de Chirico malte letzte Bilder, die auf den ersten Blick mit seinen frühen Werken verwechselt werden könnten – allerdings nur fast.

Acht Ölgemälde aus den allerletzten Schaffensjahren des italienischen Malers und Graphikers
Giorgio de Chirico (1888 – 1978) finden sich in der Gruppenausstellung „Letzte Bilder“. Dabei ist gerade das Spätwerk dieses Künstlers umstritten und nimmt inhaltlich und formal eine besondere Stellung ein. Bekannt als Hauptvertreter und Mitbegründer der Pittura metafisica, der Metaphysischen Malerei, löste sich de Chirico Anfang des 20. Jahrhunderts radikal von der Abbildfunktion der Kunst und thematisierte stattdessen Gefühle, Gedanken und Phantasien auf neue Weise.

Fiktive Bildwelten

Unbewusstes und Traumhaftes wird dabei in Form bestimmter Symboliken und Perspektiven malerisch dargestellt. So schuf Giorgio de Chirico in seinen Ölbildern fiktive Innenwelten und absurde Traumszenarien in einer Zeit, in der Sigmund Freuds Erforschung der Psyche populär wurde und den Menschen neu verortete. Dieses Augenmerk auf psychische Bewusstseinszustände übersetzte de Chirico in künstlerische Bildwelten, die anderen Regeln als alltäglichen Logiken und Naturgesetzen folgen.

Daher wählte Giorgio de Chirico als Namensgeber seines neuen Kunststils die philosophische
Strömung der Metaphysik, die die Ursprünge, Zusammenhänge und Gründe des Seins erforscht. De
Chiricos Kombination von realen und imaginären Bildelementen erhob das Transzendentale,
Übersinnliche und Geistige zu einem neuen Darstellungssystem und wurde somit zu einem Vorbild der Surrealisten.

Variation und Innovation

Innerhalb seines eigenen Schaffens nahm die Metaphysische Malerei eine eher kurze Phase ein.
Nachdem sich de Chirico bereits in den 1930er-Jahren bewusst und vollständig von der Pittura
metafisica abwandte und daraufhin betont üppig und pathetisch malte, kehrte er im Spätwerk
interessanterweise zu seinem früheren Malstil zurück. Anknüpfend an die Pittura metafisica und
sich zugleich von früheren Setzungen befreiend, gelangte de Chirico im Spätwerk zu neuen
Rekombinationen früherer Sujets und Ausdrucksweisen.

So löste die „neo-metaphysische Periode“ (Gerd Roos) ab 1967 die zwischenzeitlich barocke Malweise de Chiricos ab und dauerte bis zum Tod des Künstlers an. Dabei erschwerte der direkte Rückgriff auf frühe Arbeiten und Techniken zusammen mit expliziten Verweisen auf die Kunstgeschichte und auf vergangene Stilepochen lange Zeit die Rezeption von Giorgio de Chiricos Spätwerk. Früher wurde die Wiederholung im Alter oftmals als mangelnde Innovation verstanden, während nun die Stärken dieser Rückkehr deutlicher in den Blick geraten. Denn Giorgio de Chirico wiederholte nicht nur vergangene Epochen und frühere Werkphasen, sondern variierte und rekombinierte eigene Thematiken, wodurch er zu neuen Bildfindungen gelangte. Eine oftmals widersprüchliche Kombination von Darstellungstraditionen, Mythen sowie surrealen Situationen und Perspektiven auf die Welt eröffnet einen neuen Denkraum des Phantastischen und Geistigen.

Fortschreitender Rückgriff

In Giorgio de Chiricos Spätwerk findet sein Schaffen in der Rückbesinnung auf eigene frühe
Arbeiten eine Intensivierung, in der er mit dem Aspekt der Wiederholung gezielt und
offensichtlich spielt. Er scheint in seinen letzten Bildern noch einmal die verschiedenen Werkzyklen
und Phasen seines Schaffens zu reflektieren und somit im fortschreitenden Rückgriff sein
Lebenswerk gezielt abzuschließen. Dabei sind malerisch die Verwendung heller Farben und
die vereinfachten, oftmals flächigen Formen auffällig, die einen Bezug zu Comics und der Pop-Art herstellen lassen.

Und so wird das Spätwerk de Chiricos in den Ausstellungsräumen der Schirn auch unter dem Titel „Variation und Wiederholung“ der letzten Arbeit "Das Letzte Abendmahl" von Andy Warholgegenübergestellt. Denn Andy Warhol, einer der ersten Künstler, der konsequent neue Formen und ästhetische Prinzipien der Vervielfältigung und Aneignung auslotete, war fasziniert von de Chiricos Umgang mit Wiederholungen im eigenen Werk.

Gerade jetzt, in einer Zeit, in der Zitate und Verweise in der Kultur und Wissenschaft und ganz besonders in der zeitgenössischen Kunst eine wichtige Rolle spielen, wird die Qualität einer repetitiven und variierenden künstlerischen Praxis besonders deutlich. Viele junge Künstler stellen Bezüge zur Kunstgeschichte her und loten das Verhältnis von Originalität und Kopie auf eine neue Weise aus, wie beispielsweise Michael Riedel, dessen Arbeiten im letzten Jahr in der Schirn zu sehen waren. In dieser Hinsicht können Giorgio de Chiricos Werke der 1970er-Jahre als visionäre Vorläufer ästhetischer Strategien der Postmoderne gesehen werden.