Im Kinofilm „Laurence Anyways“ erzählt Regiestar Xavier Dolan von einem Mann, der lieber als Frau leben will. Die Arbeiten der Fotografin Nan Goldin, eine der Künstlerinnen in der aktuellen GLAM!-Ausstellung, waren für den Film eine wichtige Inspiration.

Xavier Dolan schafft Bilder, die überwältigen. Etwa die Szene, in der Fred und Laurence, nachdem sie sich nach mehreren Jahren wiedergesehen haben, gemeinsam eine Insel bereisen: Während wir die beiden von hinten beobachten, wie sie in Zeitlupe eine Straße durch den schneeverschneiten Ort abschreiten, der Himmel strahlend blau, die Mäntel bewegen sich im Wind, da fallen plötzlich bunte Hemden, Hosen und andere Kleidungsstücke vom Himmel, als wäre das das Normalste der Welt. Die Kamera fängt die Gesichter der beiden ein, sie fallen sich in die Arme. Ein Moment des Glücks, untermalt von Moderats kühlem Electropophit „A New Error". Intensiv, Gänsehaut hervorrufend.

Das Wunderkind des Kinos

„Laurence Anyways" ist bereits die dritte Regiearbeit des gerade einmal 24 Jahre alten, kanadischen Regisseurs Xavier Dolan. Sein Debüt „I Killed My Mother" von 2009 sorgte im Independent-Kino für großes Aufsehen, der Nachfolger „Heartbeats" (2010) lief dann auch prompt bei den Filmfestspielen in Cannes. Als Teenager hatte Dolan außerdem in einigen Kinofilmen mitgespielt. Ein Porträt über ihn zu finden, das ohne das Wort Wunderkind auskommt, ist alles andere als einfach. 

In „Laurence Anyways" erzählt Xavier Dolan nun eine Liebesgeschichte, die im Montreal der 1990er-Jahre spielt. Der Lehrer und Schriftsteller Laurence Alia und seine Freundin Fred sind ein glückliches Paar -- bis zu dem Moment, in dem Laurence seiner Freundin gesteht, dass er sich in einem falschen Körper gefangen fühlt. Laurence träumt davon, eine Frau zu werden. Die Beziehung zu Fred stellt er damit radikal in Frage. Trotzdem versuchen die beiden, ihre Liebe zueinander zu retten. Und Laurence lässt sich auf einen Kampf ein, gegen das Unverständnis, gegen die Intoleranz seiner Umwelt, für die Freiheit, den eigenen Lebensentwurf auch gegen Widerstände leben zu können.

Androgyne Rebellen

Die Geschlechtergrenzen durchlässig machen, mit Rollen spielen (oder eben auch: das Geschlecht wechseln): Diese Themen spielten in der Glam-Ära eine zentrale Rolle. Künstler und Musiker wie David Bowie, Marc Bolan, Ulay oder The Moodies erprobten in den 1970er-Jahren die androgyne Rebellion gegen die Norm der Geschlechter. Damals wie heute misstraut die Mehrheitsgesellschaft diesem Spiel. Damals wie heute kämpfen Transsexuelle um Anerkennung. Die Verletzungen, die diese Anfeindungen bei den Menschen hinterlassen, macht „Laurence Anyways" deutlich. Der Film zeigt, wie Laurence nach seiner Verwandlung seine Anstellung als Lehrer verliert, weil einige Eltern sich bei der Schulleitung über ihn beschweren. Und er zeigt Fred, die in einem Café die Geduld verliert und eine Kellnerin, die die beiden penetrant mit Anspielungen und Fragen bedrängt hatte, wutentbrannt anschreit.

Dolans Film lebt von starken Bildern in kräftigen Farben, er spielt mit surrealen, irritierenden Momenten, und er setzt -- von Beethoven bis zu State-Of-The-Art-Elektro -- sehr gekonnt Musik ein, bringt dadurch Tempo in die Geschichte. Stark sind auch die Darsteller. Nathalie Baye als Mutter von Laurence ist hin und her gerissen zwischen Zuneigung zu ihrem Sohn und Unverständnis über seinen Weg. Suzanne Clément begeistert als lebensbejahende, manchmal geradezu hysterische Fred und wurde für ihren Auftritt 2012 in Cannes als beste Darstellerin in der Festivalreihe „Un certain regard" geehrt. Melvil Poupaud gibt den Laurence als vielschichtigen Charakter. Seine Figur ist gleichzeitig nachdenklich und impulsiv, humorvoll und introvertiert.

Die Schönheit des Uneindeutigen

Wenn Xavier Dolan nach seinen Vorbildern befragt wird, dann antwortet er nicht mit Namen von Kinoregisseuren, sondern zählt erst einmal Künstler auf: Matisse, Chagall, Picassso, Monet, Seurat, Mondrian, Klimt. Im Buchladen des MoMA hat er sich während der Vorbereitung auf die Dreharbeiten für „Laurence Anyways" mit unzähligen Magazinen, Bildbänden und Monografien eingedeckt. Als wichtigste Inspiration nennt Dolan Nan Goldin. Die Fotografin gilt als einer der maßgeblichen Porträtistinnen der Subkulturen der 1970er-Jahre. Bis heute fängt sie in ihren Bildern ganz unvermittelt das Leben der außerhalb der Norm Stehenden ein. In der GLAM!-Ausstellung ist Goldin auch vertreten. Gezeigt werden ihre Arbeiten, die sich mit der Bostoner Drag-Szene der 1970er-Jahre beschäftigen. Es sind starke Bilder, zum Beispiel „Kenny putting on make-up" von 1973. Dort sieht man den titelgebenden Kenny, schlank, in Jeans und einer grün- und rosafarbenen Strickweste, sich konzentriert schminkend. Goldin feiert mit diesem Bild das Androgyne, die Grenzüberschreitung. Mit ihren Fotografien zeigt sie, genauso wie „Laurence Anyways", die Schönheit des Uneindeutigen.