Der zugezogene Deutsche Jacques Offenbach entwickelte sich in Montmartre zu einem Komponisten von internationalem Rang: sein Cancan ist bis heute fest im musikalischen Gedächtnis verankert. Seine Erfolge konnten ihn jedoch nicht vor der nationalistischen Ächtung bewahren.

1841 verschlägt es den Schriftsteller und Journalisten Karl Gutzkow zum ersten Mal nach Paris. Dort erlebt er in den Etablissements der Stadt Unglaubliches: „Um über den Cancan die Wahrheit zu sagen, so ist dieser Tanz weniger freie Erfindung, als traurige Notwendigkeit. Ich glaube nämlich, dass derjenige, der ihn zuerst getanzt hat, an einer Krankheit des Rückenmarks litt. Ich glaube, dass der Cancan aus Übersättigung und Unvermögen entstanden ist. Es ist schwer, über den Cancan zu schreiben und in den Grenzen der Moral zu bleiben." War er nicht gerade verboten, wurde der Cancan bei den Tanzveranstaltungen dieser Zeit unter der Aufsicht von Ordnungshütern getanzt. Regelmäßig sind solche Veranstaltungen aufgelöst worden. Der Tanz wurde als eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung betrachtet.

Der Komponist hat viele Talente und einen großen Fehler

1841 war Jakob Offenbach 21 Jahre alt. 8 Jahre zuvor war er mit seinem Vater und seinem Bruder aus Deutschland nach Paris übergesiedelt, um auf dem dortigen Konservatorium das Cellospiel zu perfektionieren. Der Vater ließ die beiden Brüder in der Weltstadt zurück, um sich in Köln seinen eigenen Geschäften zu widmen. Wenige Monate später verließ Offenbach auf eigenen Wunsch das Konservatorium und verdingte sich als Musiker in verschiedenen Orchestern der Boulevardtheater der Stadt. Als Jacques, wie er sich mittlerweile nannte, mit seinem Bruder Jules und einigen Freunden eine Wohnung in der Rue des Martyrs nahe dem Montmartre bezog, war er gerade 15 Jahre alt. Die Gemeinde Montmartre war zu diesem Zeitpunkt noch nicht Teil des Pariser Stadtgebietes, die Miete der Mansardenwohnung erschien den jungen Männern mit geringem Einkommen gerade noch erschwinglich und die Boulevards der Stadt waren von hier aus gut erreichbar.

Als jüngster Mitbewohner war Offenbach für die Besorgung der Mahlzeiten zuständig, er versteckte die Lebensmittel in einem eigens dafür mitgenommenen Violinenkoffer, um beim Flanieren kein schlechtes Bild abzugeben. Überhaupt war Offenbach nicht wenig eitel: Ein Artikel der frühen deutschen Illustrierten "Die Gartenlaube" widmet sich 1866 in anekdotischer Form gänzlich diesem Charakterzug. Hier wird ein bekannter Musiker gefragt, was er von Offenbach halte. Er attestiert dem Komponisten viele Talente neben einem großen Fehler: Mache man Offenbach ein Kompliment, bestätige dieser sogleich ungeniert seinen Genius. Zu dieser Zeit war Offenbach bereits zu einem erfolgreichen Theaterleiter und Komponisten avanciert, seine Werke wurden in ganz Europa aufgeführt. Der volkstümliche Cancan hatte sich von den Brettern der einschlägigen Lokalitäten zu einem Unterhaltungstanz auch auf den Bühnen der noblen Etablissements entwickelt. Es haftete ihm eine Aura von Unzüchtigkeit und Widerstand an, die noch 1959 Nikita Chrustschow brüskiert ob dieser "pornographischen Sauerei" zurückließ.

1870 landete der Komponist zwischen den nationalen Stühlen

Das zeitgenössische Musiktheater, auch in Frankreich von Richard Wagner dominiert, war von heiligem Ernst geprägt. Offenbach empfand diese Veranstaltungen als elitär, er wollte nahbare Unterhaltung, die einen Bezug zum Publikum seiner Zeit herstellte. Die Libretti seiner "Opérettes bouffe" waren nicht selten bissige Satiren auf die gehobene Gesellschaft des Zweiten Kaiserreiches. Das geneigte Publikum erkannte sich in den Darstellungen wieder und war trotzdem oder gerade deshalb entzückt über die Darbietungen. Die weniger privilegierten Zuschauer schätzten den kritischen Unterton der Possen. Die Stücke hinterfragten die bestehende Ordnung und trugen gleichzeitig zu ihr bei. Sie versorgten das Publikum mit Abwechslung vom Alltag unter der autoritären Herrschaft Napoleon III. und besänftigten durch ihre humorvolle Kritik den politisch interessierten, aber praktisch trägen Bürger. Als Komponist arbeitete Offenbach Zitate aus den unterschiedlichsten Genres in seine Musik ein, auch populäre Rhythmen und Melodien fanden Eingang in seine Komposition.

Heute wird der Höllengalopp oft als Offenbachs "Can-Can" bezeichnet. Dieses Stück, Jahrzehnte nach der Etablierung des eigentlichen Tanzes veröffentlicht, ist zum Inbegriff des Cancan geworden. In zahlreichen Filmen ("Moulin Rouge" von Baz Luhrmann, "Midnight in Paris" von Woody Allen oder in der Serie "Monthy Python's Flying Circus") wird Cancan getanzt, oft mit größeren oder kleineren Abweichungen in Choreographie und Instrumentierung, die Musik ist meist dieselbe. Der Tanz und die Musik Offenbachs sind im heutigen popkulturell geprägten Gedächtnis eins geworden. Hört man die Musik, denkt man unweigerlich an Spitzenunterwäsche und fliegende, notdürftig bedeckte Beine. Obwohl der Cancan heute sein widerständiges Potential eingebüßt hat, hat er doch nichts von seiner Popularität verloren. Bis heute gehört er zu den Attraktionen des Varietés Moulin Rouge im Vergnügungsviertel Pigalle. Diesem ersten großen musikalischen Erfolg Offenbachs sollten weitere folgen, so z.B. "La Belle Hélène" von 1864 oder "La vie parisienne" von 1866. 1870 brach der deutsch-französische Krieg aus und Offenbach saß als Deutscher mit französischen Bürgerrechten zwischen den nationalen Stühlen. Das französische Publikum mied ihn und die deutsche Presse erklärte ihn zum Vaterlandsverräter. 1880 starb der Komponist und wurde auf dem Friedhof Montmartre beigesetzt. Posthum, im Jahre 1881, wurde "Les Contes d'Hoffmann" uraufgeführt. Ein bis heute oft gespielter Klassiker der französischen Opernkunst.