Auf den ersten Blick fügt sich „The Jesus Corner“ perfekt ins Kienholzsche Gesamtwerk ein. Doch das Werk entspringt geradewegs der harten Realität außerhalb von Atelier und Museum und hat eine ganz eigene Geschichte.

Als Edward und Nancy Reddin Kienholz zu einer Spazierfahrt aufbrechen, ahnen sie noch nicht, dass diese den Grundstein für ein außergewöhnliches Kunstprojekt legen sollte. Eine Spazierfahrt ist nichts Ungewöhnliches für die beiden: Immer wieder fährt das Paar mit Vorliebe auch durch die entlegenen Viertel der nahe gelegenen US-amerikanischen Stadt Spokane, Washington, auf der Suche nach neuen Ideen und Anregungen. Ihr Interesse gilt dabei immer wieder den Outsidern, Menschen am Rande der Gesellschaft. Edward und Nancy Reddin Kienholz zieht es in ein Viertel, dass damals mit einer großen Abrissaktion dem Erdboden gleichgemacht werden sollte.

Ein Schaufenster ohne Waren

Die Straße dient ihnen als Inspiration und Erdung gleichermaßen. Sie finden dabei immer wieder Bemerkenswertes – selten jedoch hat sie eine Entdeckung so begeistert wie das außergewöhnlich dekorierte Schaufenster Ecke Bernard und Sprague Street, ein Schaufenster, in dem keine Waren ausgestellt werden und auch kein Hinweis auf einen Besitzer gegeben wird. Stattdessen finden sie eine akribisch zusammengestellte Sammlung verschiedener Gegenstände, die auf einen tief religiösen Menschen schließen lassen. Edward und Nancy Kienholz sind sofort begeistert von der offensichtlichen Sorgfalt, mit der diese ungewöhnliche Verehrungsstätte konzipiert wurde. Im Katalog zur Ausstellung „Edward and Nancy Reddin Kienholz: Human Scale“ im Museum of Modern Art, San Francisco (1984) berichtet Edward Kienholz, wie „zurückhaltend und gleichzeitig ansprechend“ das gesamte Schaufenster arrangiert war.

Respekt für den Glauben

Gepackt von der Begeisterung für ein Werk, dessen Schöpfer sie nicht kennen, begeben sich Edward und Nancy Reddin Kienholz auf die Suche. Leicht wird es ihnen nicht gemacht: Kein Zettel, keine Notiz am Schaufenster verrät den Besitzer. Nach etlichen, erfolglosen Suchaktionen werden sie schließlich doch fündig: Roland Thurman ist der Mann, der besagtes Schaufenster dekoriert hatte. Körperlich versehrt durch seinen ehemaligen Beruf als Boxer, musste Thurman seine Leidenschaft aufgeben und als Hausmeister arbeiten. Sein Gottvertrauen wurde indes nicht erschüttert. Obwohl Edward und Nancy Reddin Kienholz sich selbst als nicht religiös bezeichnen, empfanden sie großen Respekt für Thurman und seinen Glauben. Nach seiner Zustimmung beschließen sie, das Schaufenster mitsamt der Hausfront abzubauen und in einer Ausstellung zu präsentieren. Besprechungen mit dem Abriss-Experten Louie Ray, sorgfältige Katalogisierung aller vorhandenen Gegenstände, Abbau und Wiederaufbau im Atelier folgen. Die Ergebnisse dieser aufwändigen Arbeit können Besucher in der aktuellen SCHIRN-Ausstellung betrachten.

Eine Ehrerbietung an ihren Schöpfer und Autor

Die ungewöhnliche Zusammenstellung von religiösen Kalenderblättern und Müllbeuteln, Kruzifixen und Plastikkerzen entfaltet im musealen Kontext eine ungeahnte Kraft. „The Jesus Corner“ ist nicht zuletzt deshalb so außergewöhnlich, weil das Schaufenster aus seinem ursprünglichen Kontext herausgerissen und in den Stand eines vielbeachteten Kunstwerkes erhoben wurde. Es ist die Intention, die dieses Werk von anderen des Kienholzschen Oeuvres unterscheidet: Als Roland Thurman sein Schaufenster dekorierte, dachte er wohl nicht im Traum daran, seinen selbst erschaffenen Mikrokosmos irgendwann in den Museen dieser Welt wiederzufinden. Die ausgestellte Devotionaliensammlung sollte seiner Frömmigkeit Ausdruck verleihen. Edward und Nancy Kienholz aber erkannten in diesem Fenster einen öffentlichen Einblick in das Leben dieses Mannes.

In der Tradition des Ready-made

Ähnliche Einsichten ermöglichte das Künstlerpaar auch mit den Werken „The Night Clerk at the Young Hotel“ oder „The Pedicord Apts.“, die ebenfalls in besagtem Abrissviertel standen und durch die Künstler in einem Akt quasi moderner Archäologie abgebaut und konserviert wurden. Mit diesen Werken stehen Ed und Nancy Kienholz in der Tradition des Ready-made eines Marcel Duchamp – allerdings in einem weitaus größeren und aufwändigeren Maßstab. Es geht ihnen mit der Konservierung und Ausstellung nicht um eine ironische Brechung, wie sie betonen. Sie möchten mit größtmöglicher Authentizität diese bald vom Erdboden verschwundenen Orte und Objekte als eine Art Reverenz an die ehemaligen Bewohner des Abrissviertels erhalten.

Und schließlich ist „The Jesus Corner“ auch eine ganz persönliche Widmung, eine Ehrerbietung an ihren Schöpfer und Autor, Roland Thurman, dessen Werk es ohne das Engagement von Nancy und Edward Kienholz wohl niemals über den Status einer lokalen Berühmtheit der Provinzstadt Spokane hinaus geschafft hätte.