Kuratorin Carolin Köchling traf den seit über 30 Jahren international tätigen Graffitikünstler LOOMIT in München und sprach mit ihm über die Szene in Brasilien, eine universelle Bildsprache und die frühen Jahre des Graffiti.

Seit Mitte der 90er-Jahre lädt Loomit die Crème de la Crème der internationalen Street-Art Szene nach München ein. In der Kultfabrik am Ostbahnhof, wo sich das Studio des deutschen Graffitikünstlers befindet, dienen ihr riesige Industriehallen, Garagentore, Müllcontainer und Laternen seit mittlerweile fast zwanzig Jahren als großformatige shaped canvases. Es gibt kaum einen Zentimeter, der nicht bemalt oder beschrieben ist. Die brasilianischen „Grafiteiros" (Graffitikünstler) Herbert Baglione, Vitché und Os Gêmeos etwa haben dort erstmals außerhalb ihrer Heimat gemalt. Die Vergänglichkeit ihres Mediums gehört dazu: einzelne Wände unter anderem mit einem Mural (Wandmalerei) von Vitché wurden mittlerweile abgerissen. Die Malfreude hingegen nimmt kein Ende, so findet sich auch ein Graffiti des brasilianischen Künstlers jüngerer Generation Nunca in der Bilderflut.

Züge wie in New York

„Im Sommer ist es hier schon fast so, dass die Künstler Nummern ziehen müssen für große Wände", erzählt Loomit. Bekannt geworden ist er bereits in den 80er-Jahren mit der Bemalung eines gesamten Zuges (wholetrain), der Königsdisziplin unter den Sprühern: „München war natürlich mit seinen Abstellanlagen, die irgendwo abseits liegen, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen, ideal. Da haben wir richtig Zeit gehabt. Dortmund war ein weiteres Epizentrum in Deutschland. Gerade diese Rhein-Ruhr-Schiene hat in den 90er-Jahren selten saubere Züge gehabt. Das hat dann auch in Brasilien Eindruck gemacht, dass wir es geschafft haben, in diesem aufgeräumten Europa die Züge aussehen zu lassen, wie in New York in den 70er-Jahren."

Im Anschluss an seine Reisen nach Australien und Neuseeland, über deren Street-Art Szenen er in den ersten Graffitimagazinen schrieb, verbrachte Loomit einige Zeit in der Bronx, dem Nabel der Graffitikultur, wo diese Anfang der 90er-Jahre fast schon etabliert war. Die freien Wände und Züge wurden dort nicht mehr richtig genutzt: „Du bist durch Westchester gelaufen und jeder wusste, du bist der deutsche Maler. Kein Weißer kommt da hin, außer du bist deutscher Graffitisprüher. Und selbst als wir mal von der Polizei angehalten wurden, nachts als wir irgendwelche „freighttrains" (Güterzugbemalung) gemacht haben, fragten die: was habt ihr eigentlich, warum kommen die Deutschen und malen hier die Bronx voll, gibt es bei Euch keine Wände?"

Brasilianische Grafiteiros haben viel Fantasie und eine hohen Anspruch

Kurze Zeit später reiste Loomit nach Brasilien. Er war begeistert von dem, was er in São Paulo sah und ihm war sofort klar, dass er die Künstler nach Deutschland einladen muss, um ihre poetischen Wandbilder außerhalb Brasiliens zu zeigen. „Die haben sehr viel Fantasie und eine technisch wahnsinnig anspruchsvolle Art. Und sie gehen nicht so dogmatisch vor wie wir, wo damals alles mit Dose gemacht wurde. Eine Dose kostet verdammt viel Geld, da haben sie den günstigeren Latex genommen. Es wurde vielmehr mit Pinseln und Rollen gearbeitet. Bei den Brasilianern oder gerade bei den Paulista (Einwohner São Paulos) ist das besondere, dass sie sich weg von den Buchstaben hin zu eher poetischen Darstellungen entwickelt haben." Und das ist noch heute so. In den großformatigen Bildern der brasilianischen Künstler findet sich kaum Schrift.

Die Handschrift der Grafiteiros ist unabhängig von Worten, sie liegt in ihrer individuellen Formen- und Bildsprache. Durch das Reden in Bildern agiert die Graffitiszene global und die Handschrift jedes einzelnen macht das Arbeiten im Team möglich. „Wir haben als Street-Artists oder Graffitikünstler gelernt zusammen zu arbeiten, was in der normalen Malerei selten vorkommt. Wenn man sich etwa zu fünft ein großes Haus vornimmt wird eine Art kreativer Wettbewerb veranstaltet: jeder zeichnet sich die Wand in ihren Proportionen ab, mit ihren Merkmalen, Fenster, Röhren, Löcher -- eben alles was als Koordinatensystem für Größe und Platzierung dienen kann. Dann macht jeder einen Vorschlag -- wie ein Setzkasten oder eine Bühne -- in dem alle ihre Stärken herausstellen können. Es geht also erst mal um Kompositionsskizzen und anschließend schaut man, wer die besten Ideen hat. Das geht ganz schnell, gute Ideen setzen sich sofort durch. Wir können uns non-verbal in die anderen Künstler reindenken, das funktioniert auch mit Japanern oder Koreanern, mit denen ich keine Sprache teile. Wir brauchen nur einen Bleistift und ein Zeichenbuch. Wir können die ganzen Wände komplett durchkonzipieren, ohne ein Wort in der gleichen Sprache sprechen zu müssen."

Das Erleben aus nächster Nähe ist durch nichts zu ersetzen

Kompositionsskizzen, Handschrift und Bildsprache sind vor dem Hintergrund der Krise der Autorschaft in der Kunst seit den 60er-Jahren fast altmeisterliche Begriffe. Hinzu kommen der Unikatcharakter des Graffitis, die Verschmelzung mit dem jeweiligen Ort, die meist enorme Größe und die Unmöglichkeit des Transports. Anfang der 80er-Jahre publizierte Henry Chalfant seine Bildbände Subway Art und Spraycan Art, die zu den Inkunabeln der Szene geworden sind und die in den 90er-Jahren in Schwarz-Weiß-Kopien auch zwischen den brasilianischen Künstlern herumgereicht wurden. „Ich bin damals die ganze Zeit gereist, vor der Zeit des Internets und des Smartphones. Wir sind mit dem Interrailticket und dem Schlafsack durch die Gegend gefahren und haben alles fotografiert, was entlang der Bahnlinien zu sehen war."

Heute nutzt die Szene eine Vielzahl von Foren im Internet und informiert sich über internationale Magazine darüber, was in der weltweiten Graffitikultur passiert. Gereist wird immer noch viel, da die Fotodokumentation lediglich eine Stellvertreterfunktion hat und das Erleben einer Arbeit vor Ort durch nichts zu ersetzen ist. 

Ab 5. September ist es in Frankfurt soweit: Der Stadtraum wird von elf sehr unterschiedlichen brasilianischen Künstlern und Künstlergruppen in einem neuen, überraschenden und sicher bereichernden Licht erscheinen.